Textdokumente

Uranabbau in Krasnokamensk (Sibirien)

Von SUSAN BOOS*

„Die grösste Uranmine Russlands – laut deren Direktor sogar die grösste der Welt – liegt in Krasnokamensk in Sibirien. Seit Anfang der Sechzigerjahre baut man dort Uran ab, das anfänglich vor allem für Rüstungszwecke verwendet wurde. Heute wird alles gewonnene Material ins Ausland verkauft und stellt eine der grössten Einnahmequellen Sibiriens dar. 

In Krasnokamensk sind drei Untertagminen sowie eine Tagebaumine in Betrieb, die fünfhundert Meter tief ist und einen Durchmesser von einem Kilometer hat. Die Minen sind umgeben von Abraumhalden, Uranmühlen und Absetzbecken, die eine Fläche von zirka sieben Quadratkilometer bedecken. Dazwischen stehen die Häuser der 70'000 KrasnokamenskerInnen. In einigen der Häuser beträgt der Radongehalt 28’000 Becquerel pro Kubikmeter – in der Schweiz gilt für Neubauten ein Radongrenzwert von 400 Bq. Die Häuser müssten saniert werden, doch fehlt dazu das Geld. 

Seit Krasnokamensk nicht mehr unter strikter militärischer Kontrolle steht, kommen erste Ergebnisse über den Gesundheitszustand von ArbeiterInnen und Bevölkerung an die Öffentlichkeit: 1989 waren 79 Prozent der Männer, die in der Region starben, noch nicht 6o Jahre alt – Haupttodesursache: Krebs. Die Anzahl Kinder, die mit unterentwickelten Gliedmassen zur Welt kamen ist um das Vierfache höher als bei Säuglingen in Irkutsk; bei 51 Prozent der Schwangerschaften weisen die Föten Entwicklungsstörungen auf; die Krankheitsrate unter den Krasnokamensker Kindern ist um zehn bis zwanzig Prozent höher als bei Kindern in anderen russischen Städten, die ebenfalls unter widrigen Umweltbedingungen aufwachsen. Niemand trägt eine Schutzmaske oder Schutzkleidung. Die Arbeiter, die an Orten arbeiten, wo sie erhöhter Strahlung ausgesetzt sind, werden zwar jährlich einem Gesundheitstest unterzogen, das Ergebnis erfahren sie aber nie.

Ähnliche Geschichten liessen sich über die Uranminen in Kanada, Australien, Gabun oder Usbekistan anführen. Allen diesem Minen ist gemeinsam: Sie richten gewaltige, irreversible Umweltschäden an. Die Grubenarbeiter sind extremen Gesundheitsrisiken ausgesetzt, ein hoher Prozentsatz leidet unter Atemwegserkrankungen und Tumoren, insbesondere an Lungenkrebs. Dasselbe gilt für die Bevölkerung, die in der Nähe der Minen leben muss.

Man hat es schon als „Laune der Natur“ bezeichnet, dass siebzig Prozent der Uranminen auf den Territorien indigener Völker liegen. 

(Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, Seite 256)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Das Dilemma mit dem Atomlager Asse II

„Walter Randig nennt es zuweilen „die Sache da draussen“. Er ist 88 Jahre alt, deutet beiläufig zum Küchenfenster. Da draussen liegen sein Garten, der Ort Gross Vahlberg, dahinter Felder und die Asse – ein sanft gewölbter Hügel. Dort, hunderte Meter tief, lagern 125'797 Fässer mit strahlendem Gift, man hat sie in einem Bergwerk entsorgt. Randig ist nur Bitterkeit geblieben, er ist bitter, weil er vor der Katastrophe gewarnt hat und ihn keiner hören wollte. Die Bundesregierung hat den Atommüll hier abladen lassen; etliche ihrer Experten haben die Leute im Dorf glauben lassen, das Salzbergwerk Asse II sei immer trocken gewesen und werde es bleiben. Es war eine Lüge. 

Walter Randig wusste es. Am 9 Juli 1964 erschien sein Leserbrief in der Zeitung. Er warnte, Wasser dringe ein in das alte Bergwerk, man könne dort keineswegs strahlende Abfälle lagern. Im Dorf hielt man ihn für einen Störenfried. Er solle mit seinem Gefasel aufhören, forderten die Bergleute nach dem Tischtennisspielen, sonst riskiere er eine Tracht Prügel. Er sei ja nur der Erdkunde-Lehrer. Die Wissenschaftler hingegen wüssten schon, was sie da machten.

Heute fliessen jeden Tag 12'000 Liter Wasser in das Bergwerk. 

Irgendwann wird der Salzstock Asse II kollabieren, er wird absaufen. Im schlimmsten Fall könnte das Gebirge dann kontaminierte Salzlauge nach oben drücken, hin zum Grundwasser. Randig hat Angst davor, recht zu behalten.

In einer Wanne wird das Wasser aufgefangen. Tanklastwagen transportieren die Lauge ab. Woher das Grundwasser kommt, ist unbekannt. Sicher ist nur, dass es den Stein auswäscht – und den Weg bereitet für das endgültige Absaufen der Grube.

Also wird man die Fässer wohl entfernen müssen. Doch wohin mit dem Müll? Es ist kein Ausweg in Sicht: Wer durch die Dörfer fährt, findet an vielen Häusern ein grosses, gelbes A, es steht für „Aufpassen“. Die Bewohner schauen jetzt ganz genau hin. Lange Zeit war das Thema in den Dörfern tabu, doch im vergangenen Jahr demonstrierten 15'000 Menschen. Auch anderswo will man den Müll nicht haben. In Salzgitter, wo gerade das Endlager Schacht Konrad gebaut wird, das erste ordentliche Endlager auf deutschem Boden, wehren sich die Stadtväter gegen die Fässer aus der Vergangenheit. Günstig wird es so oder so nicht werden. Zwischen zwei und vier Milliarden Euro kostet die Bergung der Fässer, grob geschätzt. Und nur, wenn alles gut geht. 

Es ist ein Dilemma. Walter Randig, der Erdkunde-Lehrer, weiss auch nicht, was ihm lieber ist: Werden die Fässer geborgen, wäre das Problem an der Oberfläche, die Laster mit den Fässern würden vielleicht auch durch sein Dorf fahren. Bleiben sie aber unten, lagert 750 Meter unter der Erde ein Blindgänger. Ob, wann und wie er hochgeht – das weiss keiner so genau. Und denen, die vorgeben es zu wissen, traut keiner mehr.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21. März 2010)

Das Wismut-Erbe

Von SUSAN BOOS*

„Mitten im malerischen Erzgebirge, in der ehemaligen DDR, liegt das grösste Uranabbaugebiet Europas: Die Abraumhalden und Gruben der Wismut. Zeitweilig arbeiteten 137'000 Bergleute in den elf Minen, viele von ihnen zwangsverpflichtet. 1967 erreichte die Uranförderung ihren Höhepunkt, man förderte 7'100 Tonnen Uran. Die Halden, auf denen das Gestein lagerte, das man nicht verwerten mochte, enthalten jedoch noch viel Uran. Auf den wild bewachsenen strahlenden Schutthügeln spielten jahrzehntelang Kinder. 1991 begann man, die Anlagen definitiv stillzulegen und sich mit den gigantischen Umweltschäden zu befassen. Grosse Probleme bereiteten vor allem die Absatzbecken, in denen der radioaktive Schlamm aus der Uranaufbereitung lagerte.

Die Minen und Halden sind inzwischen begrünt. Doch die UmweltschützerInnen der Gegend sind sich einig: Da wird nicht etwa Atommüll entsorgt, da werden nur die äusserlich sichtbaren Schäden beseitigt – die Wismut bleibt ein offenes Atommülllager, das noch über Jahrtausende strahlen wird.

Bei mehr als 6'500 Bergleuten hat man inzwischen Lungenkrebs als Berufskrankheit anerkannt, jährlich kommen 200 weitere Fälle hinzu. Auch die Normalbevölkerung ist, laut dem Freiburger Öko-Institut, aufgrund der radioaktiven Belastung durch die Radonemissionen einem um bis zu zehn Prozent erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt.“ 

(Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 240)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Energie aus der Wüste

Deutsche Unternehmen wollen in der Sahara Solarstrom produzieren

Grosse deutsche Strom- und Finanzkonzerne wollen Deutschland schon in zehn Jahren mit Sonnenenergie aus der Sahara versorgen. Ein Konsortium soll jetzt politische und finanzielle Probleme aus dem Weg räumen. Geplant sind riesige Solarkraftwerke in der nordafrikanischen Wüste.

srs. Prima vista klingt es wie ein grüner Zukunftsroman: «Saubere» Sonnenenergie aus der Sahara für die europäischen Strommärkte. Die spektakuläre Idee gibt es schon lange, sie war Inhalt verschiedener Forschungsprojekte. Doch bisher wurden derartige Projekte von den Grossen der Branche eher belächelt.

Das hat sich inzwischen grundlegend geändert, die Vision könnte Realität werden. Denn deutsche Konzerne planen in Nordafrika – die Sahara ist von ihrer Fläche etwa so gross wie die USA - den Bau riesiger Solarparks. Von 2019 an könnte schon der erste Strom fliessen, ab 2050 liessen sich auf diese Weise etwa 15 Prozent des europäischen Strombedarfs decken.

Das Projekt «Desertec», eine Wortverbindung aus den englischen Wörtern Desert (Wüste) und Technology (Technik), soll auf einer Fläche von 130 mal 130 Kilometern in Nordafrika realisiert werden. Solarthermische Anlagen könnten dort Strom aus dem Licht der Sonne produzieren. Auch afrikanische Länder sollen mit Energie beliefert werden.

Beteiligung der ABB

srs. Auch die schweizerische ABB ist an dem Riesen-Projekt und dessen weiterer Koordination dabei. Der Technologiekonzern war finanziell an einer ersten Machbarkeitsstudie beteiligt und begleitet das Projekt schon länger inhaltlich. Schwerpunkte sind dabei Stromübertragung und Solartechnik.

Die Dimensionen des gigantischen Projekts werden nicht zuletzt an den Kosten deutlich, die auf rund 400 Mrd. Euro für Solarkraftwerke und Stromleitungen geschätzt werden. Zum Vergleich: Der Entwurf für den deutschen Staatshaushalt im laufenden Jahr beträgt 290 Mrd. Euro. Allerdings sollen sich die Kosten des Projekts auf 30 Jahre verteilen. Dennoch seien Subventionen in der Startphase nötig, sagen die Initianten.

Folgen des Klimawandels

Die Federführung des Projekts liegt bei der Münchner Rück. Die grösste Rückversicherung der Welt verbindet damit handfeste Interessen. Denn Rückversicherungen sind von den Folgen des Klimawandels deutlich betroffen. Allein im vergangenen Jahr beliefen sich die Schäden aus Naturkatastrophen für Erst- und Rückversicherer weltweit auf insgesamt 200 Mrd. Dollar. Die Tendenz ist steigend, um drei bis vier Prozent jährlich: «Langfristig ist der Klimawandel ein grösseres Problem als die Finanzkrise», sagte Torsten Jeworrek, Vorstandsmitglied der Münchner Rück der «Süddeutschen Zeitung».

Die Kalkulation von Prämien für Versicherungen werde zunehmend schwieriger, ebenso die Prognose solcher Ereignisse. «Wenn wir es nicht schaffen, den Klimawandel zu begrenzen, dann trifft es uns als Unternehmen genauso, wie es die Gesellschaft trifft », ergänzte er.

Mitte Juli soll das weitere Vorgehen koordiniert und ein Fahrplan für die nächsten Jahre ausgearbeitet werden. Ausser dem Rückversicherer sind unter anderem der Siemens-Konzern, die Energieversorger E.on, RWE, Schott Solar und die Deutsche Bank sowie weitere Unternehmen aus Deutschland, Italien und Spanien vertreten. Das Auswärtige Amt schickt einen Stellvertreter von Minister Steinmeier, weiter sind die Arabische Liga und der Club of Rome beteiligt, auf den das Projekt zurückgeht.

Relativierung der Kosten

Der Präsident der deutschen Gesellschaft des Club of Rome, Max Schön, verteidigt das Projekt als realistisch und rentabel. Innerhalb einer Generation könnten 90 Prozent des Bedarfs aus Sonnenenergie gewonnen und zugleich der Kohlendioxid-Ausstoss drastisch reduziert werden, sagte er in einem Radio-Interview. Mit Blick auf die geschätzten Kosten von 400 Mrd. Euro meinte er, in den nächsten 30 Jahren müssten alle bestehenden Kraftwerke erneuert werden. Daher handele es sich um Investitionen, die ohnehin getätigt werden müssten.

Die Stromübertragung soll mit Hochspannungs-Gleichstrom erfolgen. Siemens verwirklicht diese Technik derzeit in China, der Leistungsverlust beträgt über 1000 Kilometer gerade einmal drei Prozent. Wechselspannungs-Leitungen, wie sie heute Standard sind, können das nicht leisten. Auch entsprechende Kraftwerke existieren bereits, etwa in Spanien und Kalifornien.

Skeptische Solarfirma

Kritisch zu dem Projekt hatte sich ausgerechnet die grösste deutsche Solarfirma Solarworld geäussert. «Baut man die Kraftwerke in politisch instabilen Ländern, bringt man sich in die gleiche Abhängigkeit wie beim Öl», sagte deren Chef Frank Asbeck. Demgegenüber betont Hans-Müller Steinhagen vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, das ebenfalls hinter dem Projekt steht: Um das Risiko zu streuen, könne man diese Unwägbarkeiten mit mehreren Übertragungsleitungen aus verschiedenen Standorten in Nordafrika umgehen.

(Erschienen in NZZ Online 18.06.2009, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung, www.nzz.ch)

Forsmark: 30 Minuten bis zum Super-GAU

Von REINHARD WOLLFF*

Am Dienstag vergangener Woche (Juli 2006) ist Europa haarscharf an einem neuen Tschernobyl vorbeigeschlittert: Im Reaktor 1 des schwedischen AKW Forsmark nördlich von Stockholm wäre es fast zu einem Super-GAU gekommen. Zuerst ereignete sich ein Kurzschluss, danach fiel die Stromversorgung aus und verschiedene Sicherheitssysteme funktionierten nicht wie vorgesehen. „Es war reiner Zufall, dass es zu keiner Kernschmelze kam.“ Das sagt ein Mann, der es wissen sollte: Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns – der das AKW Forsmark betreibt – den betreffenden Reaktor bestens kennt. Nach seiner Einschätzung lösten verschiedene Konstruktionsmängel eine Kette von Fehlfunktionen aus, die dazu führten, dass der Reaktor zeitweilig nicht mehr gekühlt wurde. Man hatte noch eine Zeitmarge von einer halben Stunde – dann wäre der Reaktor nicht mehr zu kontrollieren gewesen. In der Folge wäre es eineinhalb Stunden später unaufhaltsam zu einer Kernschmelze gekommen.

Begonnen hatte die Beinahe-Katastrophe am 25. Juli 2006 kurz vor 14 Uhr: Bei Wartungsarbeiten verursachten Mitarbeiter des AKW in einem Stellwerk einen Kurzschluss, der das Atomkraftwerk auf einen Schlag vom übrigen Stromnetz trennte. Automatisch erfolgte daraufhin eine Schnellabschaltung des Reaktors 1. In einer solchen Situation sollten normalerweise vier Notgeneratoren anspringen und den Hilfsbetrieb aufrechterhalten. Vor allem sollten sie die Pumpen, die den Reaktor kühlen, mit Strom versorgen. Tatsächlich pflanzte sich aber der Kurzschluss über die gesamte Versorgungskette zwischen dem äusseren Wechselstrom- und dem inneren Gleichstromsystem fort, sodass sich auch die Hilfsgeneratoren kurzschlossen. Ein Konstruktionsmangel, den man offenbar all die Jahre übersehen hatte. Nur weil zwei der Generatoren nach einiger Zeit trotzdem gestartet werden konnten und einen Teil der Notkühlung übernahmen, gelang es, den Reaktor nach 23 Minuten wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Das Bedienungspersonal musste dabei laut Höglund gegen eine grundsätzliche Sicherheitsvorschrift – die „Halbstundenregel“ – verstossen. Laut dieser Regel soll nach der Schnellabschaltung eines Reaktors dreissig Minuten lang kein menschlicher Eingriff in den computergesteuerten Ablauf erfolgen, um unüberlegte Massnahmen zu vermeiden. Das zusätzliche Problem in Forsmark: Der Stromausfall hatte zu einem Computerblackout geführt, sodass die Bedienungsmannschaft teilweise „blind“ war. Viele Messgeräte funktionierten nicht, die Operateure wussten deshalb nicht, in welchem Zustand sich der Reaktor befand und welche Auswirkungen ihre Eingriffe hatten. Im konkreten Fall war laut Höglunds Einschätzung der Verstoss gegen die Halbstundenregel absolut korrekt und notwendig, um eine Katastrophe zu verhindern. Was aber gleichzeitig beweise, wie wenig perfekt die Sicherheitssysteme westlicher Reaktoren tatsächlich sind: Höchst unzureichend.

Sowohl der AKW-Betreiber wie die staatliche SKI weisen die Einschätzung des Forsmark-Konstrukteurs, der Reaktor habe vor einer Kernschmelze gestanden, als „übertrieben“ zurück. Bei SKI (Statens Kärnkraftinspektion) bezeichnet man die Ereignisse in Forsmark als „ernsten Vorfall“, ordnet ihn aber auf der internationalen siebenstufigen INES-Skala doch nur auf Stufe 2 ein, was einem „Störfall“ entspricht; ein „ernster Störfall“ wäre Stufe 3. Begründung hierfür: Es sei keine Radioaktivität freigesetzt worden. Für Lars-Olov Höglund ist diese Einstufung eine Verharmlosung. „Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl“, betont er: „Es war nur Glück – näher kann man einer Kernschmelze nicht kommen.“ Dass man offiziell den Vorfall bagatellisiert, kann Höglund aber nachvollziehen: „Man will den Weiterbetrieb nicht in Frage stellen. Und natürlich steuert das Geld.“ (Wochenzeitung WOZ vom 03.August.2006)

*Reinhard Wollff ist Journalist in Stockholm

Geisterbahn Gorleben

Trotz massiver Sicherheitsbedenken will die Bundesregierung die Suche nach einem Atom-Endlager weitertreiben – gegen die Proteste der Bevölkerung.

Von WOLFGANG METZNER

Norbert Röttgen, Ressortchef für Atompolitik unter Angela Merkel, will in Gorleben endlich einen Durchbruch schaffen. Der CDU-Mann, der gerne den freundlichen Umwelt-Softie gibt, will eine Lösung eines Problems erzwingen, das weltweit ungelöst ist: Wohin mit hochaktivem Atommüll, der über Tausende von Jahren strahlt? Was die Atomindustrie längst als ihre „Achillesferse“ fürchtet, will Röttgen so schnell wie möglich aus der Welt haben – Schluss mit dem Moratorium, mit dem unter der rot-grünen Regierung vor zehn Jahren die Erkundung des Salzstockes bei Gorleben unterbrochen wurde, um sicherheitstechnische Grundsatzfragen zu klären. In aller Stille lässt Röttgen Fakten schaffen, damit dort so bald als möglich weitergebohrt werden kann.

Natürlich sei alles noch „ergebnisoffen“, heisst es offiziell im Umweltministerium. Doch wer im „Erkundungsbergwerk“ einfährt, mit Helm und Atemschutz gegen schlechtes Wetter gewappnet, sieht schon an den Dimensionen der Schächte, wohin die Reise geht. 

1,5 Milliarden verbaut niemand, der nicht ein bestimmtes Ziel verfolgt. Wenn man unter Tage aus dem Gitterkorb steigt, wirkt alles grosszügig, aufwendig und clean. Bis auf ein schmutziges Stück Rohr, das aus einer hellen Wand ragt.

„RB 012“ steht neben dem angerosteten Metallstück, das so gar nicht in die saubere Welt hier unten passt. Mehr als 100 Meter wurde an dieser Stelle eine Bohrung ins Gestein getrieben. Heraus sickerten, nach und nach, 165'000 Liter salzige Lauge. „Mit Sicherheit nicht alles, was hier drin ist“, sagt der Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) Florian Emrich neben der inzwischen mit Zement verschlossenen Stelle. Sein Amt rechnet mit „maximal einigen Tausend Kubikmetern“, andere Fachleute bis zu eine Million – auf jeden Fall fatal für ein Endlager, das in Salz gebaut werden soll. 

Theoretisch ist Salz ein ideales Medium, um abgebrannte Kernelemente von der Biosphäre fernzuhalten. Das plastische Gestein fängt an zu fliessen, wenn es durch den in der Tiefe herrschenden Druck und 200 Grad heissen Atommüll aufgeheizt wird. So umschliesst es die Lagerbehälter wie ein Kokon. Mit einer Schwäche: Salz ist so leicht wasserlöslich, dass Fachleute früher immer ein undurchdringliches, schützendes Deckgebirge über einem als Endlager vorgesehenen Salzstock forderten – eine „hydraulische Barriere“, wasserfest wie eine Folie. Leider, so hat sich inzwischen herausgestellt, gibt es die in Gorleben nicht.

Während das Endlagerkonzept früher vorsah, den strahlenden Müll in dickwandigen, liegenden „Pollux“-Behältern in horizontalen „Strecken“ hintereinander zu lagern, will man jetzt senkrecht in die Tiefe. „Bohrlochlagerung“ lautet plötzlich das Zauberwort der Zukunft: In bis zu 300 Meter tiefen Schächten, von der 840-Meter-Sohle aus gebohrt, sollen die Brennstäbe stehend übereinander gestapelt werden – nur verpackt in Kokillen mit einer 45 Millimeter dünnen Wand.

So würde zum zweiten Mal das „Mehrbarrierensystem“ demontiert, das die Experten vor dem Moratorium für unverzichtbar hielten: Nach dem Verzicht auf die „hydraulische Barriere“, das Deckgebirge, würde auch noch eine „technische Barriere“ geopfert. Statt stark abschirmender „Pollux“-Behälter mit 44 Zentimeter dicken Stahlwänden kämen nur bessere Blechkanister zum Einsatz, die schneller korrodieren.

„Die Wut hier ist riesengross“, sagt Asta von Oppen, Lehrerin, 33 Jahre im Widerstand im Wendland. 

„Dieses Problem ist so gross, dass wir es nur legislatur- und parteiübergreifend lösen können“, sagt sie. Sie hat miterlebt, wie die Politik die dünn besiedelte Region im ehemaligen Zonenrandgebiet zum „Atomklo“ der Bundesrepublik auserkor. Wie die Kernindustrie die Gemeinde Gorleben mit Geldern für Schwimmbad und Freizeitvereine köderte, um sie für ihre Pläne zu gewinnen. Wolfram König, Präsident des BfS – ein „Grüner“, der nun den Weisungen des „schwarzen“ Umweltministeriums folgen muss. Manche in seinem Haus fürchten, dass die Politik gerade dabei ist, das Projekt Gorleben ein zweites Mal gegen die Wand zu fahren, indem man die Bevölkerung überrolle.“ (stern Nr. 32/2010)

Leukämiestudie Krümmel

Seit 1989 häufen sich in der Umgebung des norddeutschen Atomkraftwerkes Krümmel Leukämiefälle unter Kindern. Mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in Studien belegt, dass nur das AKW für die Leukämiehäufung verantwortlich sein kann.

Von INGE SCHMITZ-FEUERHAKE*

Die ländliche Gemeinde Elbmarsch – die mehrere kleine Dörfer umfasst – liegt am südlichen Ufer der Elbe, 35 Kilometer südöstlich von Hamburg. Gegenüber am nördlichen Elbeufer steht das Kernkraftwerk Krümmel (KKK), das 1984 den Betrieb aufnahm und damals den grössten Siedewasserreaktor der Welt darstellte (1 300 Megawatt elektrisch). Zwischen Februar 1990 und Mai 1991 hat ein einheimischer Arzt in dieser Kommune fünf Leukämiefälle bei Kindern unter 15 Jahren diagnostiziert. Weitere Erkrankungen traten zwischen 1994 und 1996 – auch auf der anderen Elbeseite – auf, womit die Gesamtzahl der Leukämiefälle auf neun stieg (Tab. 1). Alle betroffenen Kinder leben in einem Radius von fünf Kilometern vom KKK entfernt, und die weitaus meisten Fälle konzentrierten sich am Südufer. Glücklicherweise tritt Leukämie bei Kindern wie bei Erwachsenen sehr selten auf, weshalb man eine Erhöhung der Erkrankungsrate relativ leicht bemerkt. Seit etwa achtzig Jahren ist Leukämie als typische Strahlenfolge bekannt und wurde in der Zwischenzeit in mannigfachen Niedrigdosiszusammenhängen – zum Beispiel nach diagnostischem Röntgen und Umweltradioaktivität – festgestellt. Es ist eine der wenigen Krebserkrankungen, die nach einer Bestrahlung relativ schnell erscheinen.

Tab. 1: Kindliche Leukämiefälle (<15 Jahre) im Fünf-Kilometer-Umkreis des Kernkraftwerks Krümmel (KKK) (zusätzlich traten eine Leukämie bei einem Jugendlichen 1991 und eine aplastische Anaemie bei einem Kind 1989 auf)

Nr.

Geburtsjahr

Geschlecht

Leukämietyp

Diagnosedatum

Alter bei Diagnose 

1

1986

w

ALL

2/90

3

2

1981

m

ALL

3/90

9

3

1981

m

AML

4/90

9

4

1989

w

ALL

1/91

1

5

1988

m

ALL

5/91

2

6

1993

m

AML

1994

1

7

1992

m

ALL

1995

3

8

1985

m

ALL

6/95

10

9

1993

m

ALL

6/96

2

 

m: männlich w: weiblich ALL: Akute lymphatische Leukaemie  AML: Akute myeloische Leukaemie

Leukämieanstieg um 700 Prozent

In den alten Bundesländer der BRD erkranken nach dem Mainzer Kinderkrebsregister im Mittel 4,3 auf 100 000 Kinder (unter 15 J.) pro Jahr an Leukämie. In der Gemeinde Elbmarsch – die grösser ist als der erfasste Fünf- Kilometer-Radius – leben zirka 1 350 Kinder; danach wäre statistisch etwa alle 17 Jahre ein kindlicher Leukämiefall zu erwarten. Die beobachtete Erhöhung beträgt demnach über 700 Prozent. Das ist der weitaus höchste jemals bekannt gewordene Leukämieanstieg in einer angeblich unbestrahlten Bevölkerung. Das sehr junge Erkrankungsalter der Kinder bei Krümmel deckt sich mit der Erfahrung, dass die Strahlenempfindlichkeit umso grösser ist, je geringer das Alter bei Exposition war. Wie aus Tab. 1 hervorgeht, waren fünf der Fälle bei Diagnose unter 5 Jahre alt, das höchste Alter beträgt 10 Jahre. Sehr auffällig ist bei Krümmel ausserdem die geschlechtsspezifische Zuordnung. Während das Mainzer Kinderkrebsregister ein Verhältnis Jungen zu Mädchen von 1,3:1 für die Häufigkeit der akuten lymphatischen Leukämie angibt, ist dieses nach Tab. 1 in der KKK-Umgebung mit 7:2 = 3,5:1 deutlich zum männlichen Geschlecht hin verschoben. Dies ist ebenfalls typisch: Bei den japanischen Atombombenopfern trat strahleninduzierte Leukämie ebenfalls im Verhältnis Männer zu Frauen von 2 : 1 auf.

Andere Ursachen?

Medizinische, berufliche oder andere Strahlenbelastungen, die nicht mit dem KKK zusammenhängen und die den Effekt erklären könnten, wurden nicht gefunden. Eine höhere Empfindlichkeit bei Kindern würde man auch für andere Umweltnoxen voraussetzen. Von den chemischen Giften, die nachweislich Leukämie verursachen, ist Benzol das potenteste. Es müsste aber für einen so hohen Effekt in Arbeitsplatzkonzentration vorliegen. In der Elbmarsch ergab sich jedoch kein auffälliger Befund. Pestizide waren in der Elbmarsch genauso wenig auffällig wie andere toxische Stoffe mit möglichem Einfluss. Auch die Messung elektromagnetischer Feldstärken ergab keinen auffälligen Befund. Andere Hypothesen verbinden Leukämie mit Viren als Auslösern und extern bedingten Beeinflussungen des Immunsystems. Derartige Mechanismen können – solange letztlich unbekannt – natürlich nicht vollständig ausgeschlossen werden, erscheinen aber wegen der im Üübrigen vom Mainzer Kinderkrebsregister im grossen und ganzen beobachteten Stabilität der kindlichen Leukämierate in der BRD im Zusammenhang mit einem so hohen Effekt nicht plausibel. Sie könnten allenfalls die Wirkung des naheliegenden Verursachers (ionisierende Strahlung infolge Betrieb des KKK) verstärken. In der Nähe vom KKK befindet sich die Kernforschungsanlage der «Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schifffahrt und Schiffbau», die seit den sechziger Jahren zwei Forschungsreaktoren betrieben hat. Als potentielle Strahlenquelle für die Leukämieinduktion scheidet sie unseres Erachtens aus, weil die Inventare der Reaktoren (mit 5 und 15 Megawatt Leistung) wesentlich kleiner sind.

Erhöhte Strahlenwerte

  • Seit Betriebsbeginn 1984 zeigt sich in der Umgebung des KKK:
  • erhöhte Konzentration der Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90 im Regenwasser und bodennaher Luft
  • erhöhte Konzentration der Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90 in Boden und Bewuchs (Gras)
  • erhöhte Tritiumwerte in verschiedenen Medien
  • radioaktive Korrosionsprodukte in verschiedenen Medien
  • Plutoniumeinträge, die nicht aus den Atomwaffentests stammen können

Die meisten dieser erhöhten Werte können auch nicht auf Tschernobyl zurückgeführt werden. Aber es gibt zahlreiche Hinweise, dass das KKK technische Probleme hatte, die zu überhöhten Radioaktivitätsabgaben führten. Doch der zuständige Energieminister des Landes Schleswig-Holstein, Claus Möller, behauptet, es gäbe keine Handhabe für die Stilllegung des AKW, da es an justiziablen Fakten fehle und daher ein Kausalitätsnachweis gegenwärtig nicht zu erbringen sei. Demgegenüber haben wir seit Jahren geltend gemacht, dass das KKK aufgrund der Indizienlage der einzig infrage kommende Verursacher ist.

*Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake hat zusammen mit Hayo Dieckmann, Bettina Dannheim, Anna Heimers und Heike Schröder die Studie «Leukämie und Radioaktivitätsleckagen beim Kernkraftwerk Krümmel» verfasst; die Studie enthält ausführliche Quellenangaben und kann bezogen werden bei: Universitäts-Buchhandlung Bremen, Bibliothekstrasse 3, D-28359 Bremen.

Reaktorunfälle 1952 – 1989 (Auswahl)

Unfälle mit kompletter oder teilweiser Kernschmelze:

  • Fermi-Reaktor Detroit USA 05.10.1966
    Versagen der Natrium-Kühlung, teilweise Kernschmelze.
  • Lucens CH 21.01.1969
    Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • Saint-Laurent I Frankreich, 17.10.1969 Störfall Stufe 4
    Mehrere Brennstäbe schmelzen, 50 kg Uran fliessen in den Reaktorkern 
  • Three Mile Island USA 28.03.1979
    Teilweise Kernschmelze, Austritt von Radioaktivität in die Umgebung, verzögerte Evakuierung von Schwangeren und Kindern
  • Tschernobyl 26.04.1986, Störfall Stufe 7, Super-GAU

Weitere Unfälle 

  • NRX-Reaktor, Chalk River CND 1952
    Erster grösserer Reaktorunfall der Welt. Serie von Fehlleistungen und Missverständnissen führen zum Versagen der Kontrollsysteme, Reaktorkern irreparabel beschädigt,  Austritt von Radioaktivität in die Umgebung.
  • Windscale GB 1957
    Schwelbrand im Graphit, teilweise Zerstörung des Reaktorkerns, massive radioaktive
    Verseuchung der Umgebung. Erhöhte Krebs- und Trisomie-21-Rate .
  • Santa Barbara USA 26.07.1959
    Experimentalreaktor, Panne in der Natriumkühlung, 10 von 43 Brennelementen schmelzen.
  • Idaho Falls USA 03.01.1961
    Militärreaktor, Kontrollstab zu weit herausgezogen, Dampfexplosion, 3 Tote.
  • Shippingport, Pennsylvania USA 1971
    Verseuchung der Umgebung, Angestellte sterben später an Krebs und Leukämie.
  • Northern States Power bei Monticello, Minnesota USA 19.11.1971
    190 m3 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in den Mississippi River und zum Teil in die Wasserversorgung von Saint Paul.
  • Obrigheim BRD 1972
    Bersten eines Niederdruckbehälters wegen unbeabsichtigter Öffnung eines Ventils.
  • Würgassen BRD  12.04.1972
    Ein Druckentlastungsventil kann nicht geschlossen werden, Druckpulse führen zu Leckagen, 1000 m3 radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in die Weser.
  • Browns Ferry, Alabama USA 22.03.1975
    Techniker prüft Luftzug in Kabelschacht mit einer brennenden Kerze. Brand der Leitungsisolation führt zum Ausfall des gesamten Steuerungs- und Sicherungssystems.
  • Brunsbüttel DE 1976
    Riss in einer Frischdampfleitung, hätte zum Abriss der Hauptdampfleitung und damit zum GAU führen können.
  • Greifswald DDR 1976 
    Techniker setzt Kabelnetz in Brand. Notabschaltung funktioniert, aber Notstromversorgung nicht. Die wichtigsten Anzeigegeräte fallen aus, Kernschmelze droht. Zufällig war eine Pumpe wegen Wartungsarbeiten ans Netz des benachbarten Reaktors angeschlossen und funktionierte als einzige.
  • Gundremmingen BRD 13.01.1977
    Zwei Hochspannungsleitungen fallen wegen Kälte aus. Weil an diese Möglichkeit nicht gedacht worden war, interpretiert das Reaktorschutzsystem dies als „Leck in der Frischdampfleitung“ und schaltet den Reaktor ab. Wegen Schwierigkeiten beim Umschalten auf Notstrom wird der Reaktor mit Kühlwasser überspeist. Radioaktives Kühlwasser gelangt ins Reaktorgebäude, Reaktor kann nicht mehr in Betrieb genommen werden.
  • Brunnsbüttel BRD 18.061978
    Bruch einer Rohrleitung. Abschaltautomatik vorschriftswidrig stillgelegt, 145 Tonnen radioaktiver Dampf gelangt in die Umgebung.
  • Belojarsk UdSSR 30.12.1978
    2 Reaktoren, Brand in Maschinenhalle. Nur ein Reaktor wird abgeschaltet, sonst wäre Kühlung wegen grosser Kälte nicht mehr möglich. Zahlreiche Opfer unter den Feuerwehrleuten.
  • Erwin, Tennessee USA 07.08.1979
    Militärreaktor, 1'000 Personen mit Grenzwert überschreitenden Dosen belastet.
  • Tennessee Valley Authority’s Sequoyah-1 Reactor, USA 11.02.1981
    Wegen Missverständnis Ventil geöffnet, 470’000 Liter Wasser, zum Teil aus dem Primärkreislauf, im Containment versprüht, 8 Arbeiter kontaminiert, Totalausfall der Beleuchtung.
  • Ginna, New York State USA 25.01.1982
    Rohrbruch im Dampferzeuger, Radioaktivität gelangt in den Sekundärkreislauf, die Druckentlastungsventile öffnen sich, Freisetzung von Radioaktivität. Wegen Druckverlust Kühlung des Reaktors gefährdet.
  • Kozloduj BG 21.02.1983
    Ventile am Druckhalter stehen offen, der Primärkreislauf verliert Kühlmittel und Druck. Fehlreaktion der Bedienungsmannschaft.
  • Salem-1, USA 22. und 25.02.1983
    Notabschaltmechanismus schlecht gewartet, versagt.
  • Pickering-1 CND 01.08.1983
    Bruch einer Druckleitung, 900 Liter schweres Wasser gelangen in den Ontariosee.
  • Pickering-2 CND 1983
    Bis 1,8 Meter lange Risse in Druckleitungen, Reaktor abgeschaltet.
  • Pickering-2 CND 03.09.1983
    Lecks in Druckleitung, 2'250 Liter schweres Wasser in den Huronensee. Reaktor stillgelegt. 
  • Jaslowske Bohunice CSSR 1984
    Häufung von Pannen: Beschädigte Bolzen, Ausfall der Notstromversorgung, leckendes Ventil im Sekundärkreislauf. Zu früh eingeschaltetes Kontrollsystem fährt den Reaktor von 80% auf 102% Leistung hoch.
  • Bugey FR 14.04.1984
    Ausfall eines Gleichrichters, der einen Teil des Kontrollpanels versorgt. Die Konsole wird automatisch von einer Batterie versorgt. Als die Batterie leer wird und die Spannung nachlässt erfolgt automatisch eine Schnellabschaltung des Reaktors. Wegen der fehlenden Spannung können die Konsole nicht auf Notstromversorgung umgeschaltet und der Notstrom-Dieselgenerator nicht gestartet werden. Obwohl ein anderer Dieselgenerator noch Strom liefert, ist das Reaktorschutzsystem ohne Strom, da dort eine Sicherung durchgebrannt war. Der Reaktorkern wurde nur noch durch thermische Konvektion gekühlt, der Druck des Primärkreises durch Ventile geregelt, die teilweise auch nicht mehr funktionieren. Wäre eines der stromlosen Ventile in offener Stellung verblieben, hätte das ein Leck im Primärkreis bedeutet.
  • Chooz-A FR 1984
    Risse, Reibungsabnützungen und gebrochenen Schweissnähte bei Kontrollstäben.
  • Tarapur IND 1985
    Bruch einer Gummidichtung. Reaktorgebäude mit radioaktivem Wasser überflutet, 100 m3 davon gelangen in die Umgebung.
  • Neckarwestheim BRD 20.01.1985
    Ausfall einer Hauptkühlpumpe wegen Wasser aus einer lecken Sprinkleranlage. Umschalteinrichtung auf zweite Pumpe versagt.
  • Krümmel BRD 25.01.1985*
    Ein Anschlag auf die Stromleitung führt zum Zusammenbruch der Stromversorgung des Reaktors
  • Rheinsberg DDR Februar 1985
    Brennstabexperimente. Über die Messgeräte dringt radioaktives Wasser nach aussen.
  • Grohnde BRD 06.03.1985
    Ein Defekt an einer Notkühlpumpe bleibt längere Zeit unbemerkt, auch die anderen Pumpen sind nicht voll funktionsfähig. Wenn die Hauptspeisepumpe versagt hätte, hätte auch die Notkühlung versagt.
  • Toledo Edison’s Davis-Besse Plant in Oak Harbour USA 09.06.1985
    16 Materialfehler und menschliches Versagen führen zu einem ähnlichen Ablauf wie in Three Mile Island.
  • Fermi Michigan USA 23.07.1985
    Irrtümlich Ventile geöffnet, statt geschlossen. Sechs Tage später fällt ein Notkühlsystem aus.
  • Brunswick North Carolina USA 30.07.1985
    In einem Notkühlsystem bricht ein Brand aus, weil ein falsches Relais eingebaut worden ist.
  • Catawba South Carolina USA 15.08.1985
    Beim unachtsamen Auffüllen eines Primärkreistanks entsteht ein gefährlicher Überdruck. Der Ausfall der Notstromversorgung kurz danach wird für eine Fehlanzeige gehalten.
  • Cooper Nebraska USA 24.08.1985
    Die Verwechslung zweier Drähte führt zu verkehrter Ventilsteuerung. Wird bei Wartungsarbeiten zunächst nicht bemerkt.
  • August Beaver Valley USA 1985
    Zufällig wird entdeckt, dass Notkühlwasserpumpen seit längerem betriebsunfähig waren.
  • Pickering CND 1985
    Notstromversorgung fünf Tage lang in drei Reaktorblöcken defekt.
  • Kerr-McGee Plant Gore Oklahoma USA 04.01.1986
    Uranhexafluoridzylinder platzt wegen unsachgemässer Erhitzung. Ein Toter, hundert Verletzte, kleinere Mengen Radioaktivität in die Umgebung.
  • Tschernobyl UKR 26.04.1986, Störfall Stufe 7
  • Hamm-Uentrop BRD 04.05.1986
    Thorium-Hochtemperaturreaktor. Eine Brennstoffkugel verklemmt sich. Beim Versuch, sie durch Gasdruck zu lockern, wird Radioaktivität frei.
  • Hinkley Pont, Sommerset GB 09.05.1986
    Wegen einer defekten Schraube entweichen grosse Mengen radioaktiver Gase.
  • Cattenom FR 19.08.1986
    Weil ein Steuerventil offen ist, werden wichtige Teile der Anlage überflutet.
  • Ringhals bei Göteborg, Schweden
    Radioaktives Wasser entweicht.
  • Surrey-2 Virginia 09.12.1986
    Eine Rohrleitung von 46 cm Durchmesser explodiert. Rohrwände wegen Korrosion papierdünn. 350° heisser Dampf strömt aus. Sechs Arbeiter werden verbrüht, vier von ihnen tödlich.
  • Stade BRD 18.09.1988
    Ein Ventil schliesst wegen Fehler in der Elektronik eine der vier Hauptdampfleitungen, die anderen Ventile folgen automatisch. Der Versuch, die Schnellabschaltung des Reaktors zu verhindern misslingt und führt zu heftigen Vibrationen in alten Leitungen. Vier Monate vorher wurde der Abriss eines Ventils im nichtnuklearen Speisewassersystem zuerst verheimlicht.
  • Isar-1 in Ohu BRD 24.07.89
    Der schwere Teleskopmast der Brennstab-Wechselbühne löst sich aus der Verankerung, 67 Stahlkugeln von 8 mm Durchmesser fallen in den Reaktor, nicht alle werden gefunden. Könnten die Umhüllung von Brennstäben beschädigen und dadurch verursachen, dass Radioaktivität bis zu den Generatoren vordringt.
  • Vandellos ESP 22.10.1989
    Brand im Turbinenraum. Unzureichende Löschversuche, Kühlsystem hätte ausfallen können. 

Atomunfälle in der Schweiz 1969 - 1989

  • Lucens 21.01.1969
    Kohlendioxidgekühlter, schwerwassermoderierter Versuchsreaktor, Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • 28.06.1971 Mühleberg
    Siedewasserreaktor. Durch eine lose Ölleitung entströmen 2‘000 Liter Öl und entzünden sich. Durch den Brand – Schaden 20 Millionen Franken – werden Gebäude, Kabel und Armaturen beschädigt.
  • 20.08.1974 Beznau-I
    Druckwasserreaktor. Störung in der externen Stromversorgung, eine der beiden Turbinen schaltet ab. Ein Ventil öffnet sich nicht, der Druck im Sekundärkreislauf steigt, ebenso die Temperatur im Primärkreislauf. Zwei Druckentlastungsventile öffnen sich, aber nur eines schliesst sich wieder, nachdem der Druck gesunken ist. Schnellabschaltung des Reaktors, der Wasserverlust geht weiter, bis ein Operateur den Fehler bemerkt und ein Ventil von Hand schliesst. 
  • 02.06.1986 Mühleberg
    Korrosionsschäden an der Umwälzschleife direkt am Reaktordruckgefäss.
  • 16.09.1986
    In einer Harzaufbereitungsanlage leckt ein Filtersystem, radioaktive Isotope (Kobalt-60, Cäsium-134 und 137) entweichen. Der Zwischenfall wird verheimlicht. Aufgedeckt durch private Radioaktivitätsmessungen.
  • 12.07.1989 Beznau-I
    Durch einen Defekt in einem Dampferzeugerrohr dringen täglich 600 Liter radioaktives Kühlwasser in den Sekundärkreislauf und gelangen dadurch in die Dampfturbinen.
  • 19.07.1989 Beznau-I
    Ein Brennelement wird kurz nach der Revision undicht.

Mehr:
Reaktorunfälle

(Quelle: IPPNW/PSR 1989, Ordner „ATOM“)

Sie haben versagt

Der folgende Text erschien vier Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am  23.5.1986 als Inserat in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er entstand in einem Freundeskreis von sieben Männern und Frauen. Als verantwortlich zeichnete Inge Aicher-Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl.

Was tun? H-Milch kaufen oder Büchsenmilch? Wir wissen es nicht.

Regenschirm oder Abduschen? Wir wissen es nicht.

Sind Kinder 23mal oder nur 17mal so gefährdet wie Erwachsene? Wir wissen es nicht.

Es geht um mehr als um Tiefkühlkost und um die Frage nach dem unbedenklichen Verzehr von Blattspinat in den richtigen Bundesländern. Unsere Politiker haben sich tot gestellt. Kein Ton von den Herren, die so gerne reden.

Als Lastwagenfahrer einst gegen schleppende Abfertigung an der Grenze protestierten, fuhr Herr Strauss1) ins Krisengebiet. In geländegängigem Fahrzeug. Wenn jetzt Frauen ihre Kinder nicht mehr auf den Spielplatz lassen können, wenn die Landwirte ihr Blattgemüse umpflügen müssen, wenn Menschen der Strahlengefahr direkt ausgeliefert sind, entfaltet sich administrative Funkstille. Der Staat ist untergetaucht. Warum?

Ruhe bewahren, nur keine Aufregung, Gras drüber wachsen lassen: Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden.

Nur einer meldet sich zu Wort: Herr Zimmermann1). Er beschimpft die Russen, sie würden eine unmenschliche Informationspolitik betreiben, eine verantwortungslose, weil sie nichts anderes im Sinn hätten als Ruhe bewahren, nur keine Aufregung, Gras drüber wachsen lassen: Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden. Der Kanzler gab aus dem fernen Osten Anweisungen. Die Behörden hielten Strahlenwerte geheim.

Heute sind 350 Kernreaktoren in rund dreissig Ländern in Betrieb. Zwei haben schrecklich versagt. Einer in Harrisburg, einer in Tschernobyl2).

Nun werden noch mehr Menschen an Krebs sterben. Das Erbgut vieler Menschen ist seitdem krankhaft verändert, ohne dass sie es wissen. Es wird noch mehr Sozialfälle und Krüppel geben. Die Schadstoffe werden in der Lebensmittelkette bleiben. Wir reichern uns an.

Versagen gehört zu unserer Welt. Es gibt keine absolute Sicherheit. Jede Technik hat Schwachstellen. Versagen ist menschlich. Mit Versagen nicht zu rechnen, ist verantwortungslos und unmenschlich. Die Atomwirtschaft setzt auf technische Wunderwerke, die nicht versagen. Aber sie haben versagt. Mag sein, die deutschen Atomkraftwerke sind doppelt so sicher wie die russischen. Dann passiert es in acht Jahren statt in vier. Und Brokdorf liegt nur 60 km von Hamburg, Wackersdorf nur 130 km von München, Biblis nur 50 von Frankfurt. Wer evakuiert die Hamburger wohin? Werden die Münchner nach Capri evakuiert? Die Frankfurter auf die Kanarischen Inseln? Jeder wird allein gelassen sein. Wie schon dieses Mal. Die Politiker werden wieder unfähig sein, etwas zu tun. Sie werden abwiegeln, beschwichtigen.

Nur keine Panik, sagen sie. Unsere Sorge sei verständlich, sagen sie, aber völlig überflüssig. Vor allem soll alles so weitergehen, sagen sie. Nur jetzt noch sicherer. Atomstrom schafft Arbeitsplätze, sagen sie. Beschwichtigung von Ignoranten. Sie sehen nichts, sie hören nichts, sie lernen nichts. Sie haben nur gelernt, wie man Wahlen gewinnt.

Was haben wir gelernt? Es reicht nicht, gegen das Informationschaos und den Beschwichtigungsnebel der Regierung zu protestieren. Es reicht nicht, mehr Schutz und Sicherheit zu fordern. Es reicht nicht, weil uns so eindrucksvoll wie noch nie bewiesen wurde, in welchem Ausmass die Politiker der Lage nicht gewachsen sind. (Dabei war Tschernobyl nur ein Unfall. Stellen wir uns vor, es explodieren Sprengköpfe.)

Auswandern? Emigrieren? Aber wohin? Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten nichts gewusst. Wir können nicht fliehen und emigrieren. Die Welt wird immer mehr zu unserem eigenen Gefängnis. Zum Gefängnis des atomaren Fortschritts. Wenn wir heute nichts dagegen unternehmen, werden sie sich Morgen bedanken für unser Stillhalten und unsere „Vernunft“. Jeder muss überlegen, was er tun kann. Jeder an seiner Stelle. Dieses Mal vergessen wir’s nicht.

(Aus Gudrun Pausewang: „Die Wolke“, Ravensburger-Verlag, S. 7, mit freundlicher Genehmigung des Verlags www.ravensburger.de)

1) damaliger Bundesminister

2) das war 1989, heute sind 438 Reaktoren in Betrieb. Übrigens ereignete sich am 10. Oktober 1957 ein erster, grosser Unfall in Windscale/Sellafield (GB), am 11. März 2011 kam Fukushima dazu. Am 25. Juni 2006 wurde im schwedischen AKW Forsmark durch das regelwidrige Eingreifen eines Technikers eine Kernschmelze verhindert!).

Three Mile Island (Harrisburg)

Three Mile Island, eine kleine Insel im Susquehanna River, liegt rund 18 Kilometer von Harrisburg (Pennsylvania, USA) entfernt. Auf der Insel stehen zwei Reaktorblöcke mit einer Leistung von 1'000 Megawatt (Gösgen hat 965 Megawatt); es sind wie in Beznau und Gösgen Druckwasserreaktoren.

Am 28. März 1979 ereignete sich in Block II der erste schwere Kernschmelzunfall in einem kommerziellen AKW:

Es ist vier Uhr morgens. Der Reaktor produziert mit hoher Leistung Energie. Plötzlich steigt im Primärkreislauf eine Pumpe aus. Der Generator stellt ordnungsgemäss ab. Doch die Kernspaltung im Reaktor läuft weiter. Seine Wärme im Primärkreislauf kann er jedoch nicht mehr an den Sekundärkreislauf abgeben. Die Temperatur im Reaktorkern steigt. Ein Ablassventil öffnet sich, um den Druck im Reaktorbehälter abzubauen. Danach schaltet sich der Reaktor selbst ab. Das dauert nur wenige Sekunden.

Die Operateure wissen jedoch eines nicht: Das Ventil sollte sich von selbst wieder schliessen, doch es klemmt und bleibt offen. Der Druck im Reaktor sinkt immer weiter. Zudem arbeitet das Notstromsystem, das Wasser in den Sekundärkreislauf hätte pumpen sollen, nicht. Es steht wegen Wartungsarbeiten ausser Betrieb. Nun passiert ein verrücktes Missgeschick: Eine Warnlampe zeigt zwar an, dass dieses Sicherungssystem ausgefallen ist – doch die Operateure sehen die Lampe nicht, weil ein Zettel sie verdeckt.

Das wäre vielleicht noch glimpflich abgelaufen, wäre nicht noch eine Fehlleistung hinzugekommen: Automatisch schaltet sich ein weiteres Notsystem ein und pumpt Wasser in den Reaktor, der sich immer stärker erhitzt. Dieses Wasser hätte den Reaktor abkühlen können, die Katastrophe wäre ausgeblieben – doch die Operateure reagieren falsch und schalten diese Pumpe ab.

Im Reaktor bildet sich Dampf. Der Kern wird freigelegt, mehr als die Hälfte der Brennstäbe schmilzt. Eine Wolke von radioaktiven Gasen entweicht und verseucht die Umgebung von Three Mile Island. Stunden-, ja tagelang weiss niemand, was wirklich los ist.

(Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989)

Tiefenlager und Ewigkeit

Studie zu Warnhinweisen

dsc. Mit geologischen Modellen lässt sich abschätzen, ob radioaktive Abfälle im Gestein lange gesichert sein können, so dass sie keine gefährliche Strahlung an die Umwelt abgeben. Doch was ist, wenn in ferner Zukunft Menschen Grabungen durchführen und in die Nähe des Lagers gelangen, über dessen Gefährlichkeit sie gar nicht mehr Bescheid wissen? – Bei der Suche nach Möglichkeiten der Überlieferung von Wissen und Warnungen ist man noch weit von Lösungen entfernt. Das Bundesamt für Energie (BfE) hat kürzlich eine Grundlagenstudie dazu publiziert. Man wolle in den nächsten zehn Jahren ein entsprechendes Konzept erarbeiten, so Michael Aebersold vom BfE. Wichtig sei die internationale Zusammenarbeit – nicht nur, um Erkenntnisse auszutauschen, sondern auch weil neben Markierungen vor Ort auch eine global koordinierte Speicherung von Informationen sinnvoll sei, so Aebersold.

Verhältnismässig einfach dürfte es sein, Informationen zu hinterlegen, die einige tausend Jahre lang entziffert werden können. Noch nie stand aber die Menschheit vor der Aufgabe, Wissen mit Blick auf rund eine Million Jahre zu archivieren, wie es das radioaktive Potenzial eines Tiefenlagers erfordert. Studienautor Marcos Buser ist aufgrund der historischen Veränderungen der Bedeutung von Symbolen sehr skeptisch, ob man je ein Piktogramm entwickeln kann, das über so lange Zeit eine so simple Information wie „Gefahr“ transportiert.  Sinnvoller erscheinen subtilere Wege. So könnte die Deponierung unscheinbarer Tonscherben wenig unterhalb der Erdoberfläche signalisieren, dass man es mit einer Zone unspektakulärer menschlicher Hinterlassenschaften zu tun hat – also keine Naturschätze zu erwarten sind. Keinesfalls sollen Stollen oder Aussenanlagen monumental sein und die Neugier wecken. Auch soll es nicht so scheinen, dass die Behälter aus wertvollen Materialien beständen, deren Abbau lohnend wäre. Durch Signale soll bei unseren Nachfahren ein Lernen über das radioaktive Erbe ausgelöst oder zumindest die Lust am Weitergraben unterbunden werden. Marcos Buser nennt auch die Option, Wissen in die Form eines Mythos zu fassen, der Jahrtausende lang tradiert würde. Dazu gelte es, die Mechanismen antiker Überlieferungen zu analysieren.

(Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 12.07.2010. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung www.nzz.ch)

Tschernobyl und die Schweiz

Von SUSAN BOOS*

Von Seiten der Behörden und AKW-Betreiber heisst es immer wieder, Tschernobyl sei nicht vergleichbar mit unseren Reaktoren: Unsere seien sicherer, besser gewartet und das Personal perfekt ausgebildet. Das mag einerseits zutreffen, andererseits haben das bislang alle AKW-Betreiber der Welt behauptet. Auch diejenigen von Three Mile Island waren überzeugt, bei ihnen könnte sich nie ein schwerer Unfall ereignen. Sonst hätten sie wohl kaum zugelassen, dass wenige Monate vor dem Unfall der US-Film „The China Syndrom“  auf Three Mile Island fertig gedreht wurde. Der Film schildert, wie in einem AKW der Reaktor durchzuschmelzen droht. Mit „Chinasyndrom“ bezeichnen Insider scherzhaft eine Kernschmelze, bei der sich ein tonnenschwerer Urankern in die Erde Richtung Asien frisst. Im Film gibt es ein Happyend. Er lief in den US-Kinos, als man in der Umgebung von Three Mile Island Schwangere und Kinder evakuierte.

Dass technisch betrachtet ein Unfall wie in Tschernobyl in unseren Reaktoren nicht passieren kann, stimmt insofern, als es sich um einen ganz anderen Reaktortyp handelt. „Tschernobyl“ hatte aber auch Vorteile, die die Schweiz nicht vorweisen kann. Die Anlage steht zum Beispiel in schwach besiedeltem Gebiet. Ein weiterer „Vorteil“ war, dass der Reaktor buchstäblich explodierte, wodurch ein grosser Teil der Spaltprodukte in die Atmosphäre geschleudert und über den ganzen Erdball verteilt wurde. Dies wäre – wie das Öko-Institut Darmstadt errechnete – bei den Schweizer Reaktoren anders: Weil sie eine andere Konstruktion aufweisen, käme es zu „niedrigeren Freisetzungshöhen – bis zu einigen hundert Metern“, die „zu höheren Belastungen in kleinen und mittleren Entfernungen (damit sind Entfernungen bis zu einigen hundert Kilometern gemeint)“ führen. Die Radionuklide gingen also in der Schweiz und dem angrenzenden Ausland nieder. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 162)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Wohin bloss mit dem Müll?

Von WOLFGANG METZNER

Zurzeit sind 438 Kernkraftwerksblöcke in 31 Ländern in Betrieb. Obwohl die Atomkraft kommerziell seit über 50 Jahren genutzt wird, existiert bisher weltweit kein einziges Endlager für hoch radioaktiven Müll. Während niedrig strahlende Abfälle in vielen Ländern bereits in oberflächennahen Silos oder Felskavernen verstaut sind, sollen abgebrannte Brennelemente und verglaste „High Active Waste“ in tiefen geologischen Formationen der Erdkruste untergebracht werden. Strittig ist, welches Gestein sich am ehesten dafür eignet, die hochgiftigen und tödlich strahlenden Nuklearstoffe bis zu einer Million Jahren von der Biosphäre zu isolieren.

Weltweit gibt es kein einziges Endlager für hoch radioaktive Abfälle:

  • Finnland ist am weitesten mit dem Bau eines Endlagers. Im Jahr 2020 soll es am Bottnischen Meerbusen 400 bis 700 Meter tief im Granit in Betrieb gehen. Es wird in unmittelbarer Nähe laufender Kernkraftwerke bei dem Ort Eurajoki errichtet, dem weitgehende wirtschaftliche Versprechungen gemacht wurden.
  • Auch Schweden setzt auf kristallines Gestein und hat 2009 den Standort Forsmark für ein Endlager im Granit ausgewählt. Die Bauarbeiten sollen 2012 beginnen, wenn weitere Forschungen abgeschlossen sind.
  • Frankreich favorisiert dagegen Ton und untersucht gegenwärtig eine Tiefenlagerung bei Bure in Lothringen, gut 200 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. 
  • Ganz nahe an der Bundesrepublik könnte ein Schweizer Endlager errichtet werden. In einem transparenten Verfahren mit hoher Bürgerbeteiligung prüfen die Eidgenossen, ob dort bis 2040 eine Lagerstätte gebaut werden soll, ebenfalls im Ton.
  • In den USA war ursprünglich ein Standort im Tuffgestein in Yucca Mountain, Nevada, ausgewählt worden. Doch nach massiven Bedenken der Geologen hat Präsident Obama das Projekt in der Nähe eines früheren Atombombentestgeländes vorläufig gestoppt.
  • In Deutschland entschied man sich früh für die Einlagerung in Salz, obwohl Experten besonders vor dessen Wasserlöslichkeit und vor korrodierenden Behältern warnten. Während der Salzstock von Gorleben noch untersucht wird, stehen im oberirdischen Zwischenlager nebenan bereits 91 Castor-Behälter – nun kommen 11 weitere hinzu. Aus Frankreich muss Deutschland im nächsten Jahr abermals 11 Behälter zurücknehmen, aus dem englischen Sellafield 21. Alle diese Behälter, wie auch die Castoren, die sich in den deutschen Kernkraftwerken befinden, müssen viele Jahre zwischengelagert werden, damit die Wärme abklingt, ehe sie unter der Erde verschwinden können. (stern 46/2010)

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