Textdokumente

Castorprotest Gorleben

Jung. Cool. Gegen Atom. Neben den erfahrenen Aktivisten prägt eine neue Generation die Proteste gegen das Atommülllager. Sie sind vor allem eines: vielseitig engagiert.

Von MALTE KREUTZFELDT*

Seit 48 Stunden sitzen viele von ihnen vor dem Zwischenlager. Stroh schützt gegen die harte Straße, Plastikplanen gegen die Regenschauer: Über 1’200 Menschen warten am Sonntagmittag in Gorleben auf den Castor. Vor der Polizei weichen sie nicht.

Widerstand hat es im Wendland immer gegeben, wenn der Castor kommt. Dafür sorgt allein schon das starke Engagement der örtlichen Bevölkerung. Doch in diesem Jahr ist etwas anders: Die Proteste haben nach langer Stagnation erstmals wieder massiven Zulauf. Wer sind diese neuen DemonstrantInnen, woher kommen sie?

Auf den ersten Blick weckt die Blockade viele Assoziationen an die 80er-Jahre. Anti-Atom-Sonnen und Friedenstauben sind zu sehen, bunte Mützen, Wollpullover, Palli-Tücher. Viele der TeilnehmerInnen haben schon Demoerfahrung, die in die Zeiten zurückreicht, als Gorleben Ende der 70er-Jahre als "Nukleares Entsorgungszentrum" festgelegt wurde: Die Generation 50 plus ist so stark vertreten wie in vermutlich keiner anderen sozialen Bewegung. Sie sehen vieles von dem, wofür sie in der Vergangenheit gekämpft haben, bedroht - und gehen darum wieder auf die Straße. Dort treffen sie auf diejenigen, die den Protest vor dem Zwischenlager zahlenmäßig dominieren: Junge Menschen zwischen 15 und 30 haben die Massen-Sitzblockade als ihre Protestform wiederentdeckt - und ins neue Jahrtausend geholt. Die Kommunikation der Teilnehmer läuft nicht nur basisdemokratisch über "Bezugsgruppen" und "SprecherInnenräte". Für die Koordination gibt es Massen-SMS-Verteiler. Bei der Blockade werden die Ansagen aus der Mitte der Aktivsten per Funkmikro in die drumrum stehenden Lautsprecherwagen übertragen; für alle, die nicht dabei sein können, gibt es einen Live-Ticker im Internet. Während unter den OrganisatorInnen der Blockaden viele Aktive mit langjährigen Erfahrungen sind, gibt es unter den Teilnehmer viele, die zum ersten Mal in Gorleben mitmachen. Ohne Protesterfahrung sind sie aber dennoch nicht. Schlüsselerlebnis, so ist bei der Blockade immer wieder zu hören, waren die G-8-Proteste im vergangenen Jahr in Heiligendamm.

Viele, die sich zuvor nur lokal und oft eher theoretisch mit politischen Fragen beschäftigt haben - ob beim BUND, in Uni-Gruppen oder der Grünen Jugend, machten dort ihre ersten Erfahrungen in Sachen Massenprotest. Die großen Camps, die vielen Aktionen, die erfolgreiche Blockade der Zufahrtswege zum Gipfel, haben eine neue Generation für zivilen Ungehorsam gewonnen.

Großer Vorteil dieser Aktionsform ist, dass sie einerseits ein sehr viel deutlicheres Zeichen setzt als eine klassische Demonstration: Man ist bereit, für das politische Ziel Regeln zu brechen und Konsequenzen zu tragen. Zugleich ist das Risiko bei Blockaden auch für weniger Erfahrene überschaubar, und das Bild, das sie vermitteln, ist positiv und friedlich. Denn auch das ist ein Erkennungsmerkmal der neuen Aktionen: Sie arbeiten - im deutlichen Gegensatz etwa zu Autonomen der 80er und 90er - offensiv mit den Medien und bemühen sich aktiv darum, schöne Bilder und klare Botschaften zu vermitteln. Eingesetzt wird diese Strategie nicht nur gegen den Castor. Im vergangenen Jahr gab es ein Protest-Revival auch bei anderen Themen. Besetzungen von Gentechnikfeldern oder öffentlich angekündigte Zerstörung der Pflanzen hatten in diesem Sommer ein unerwartetes Comeback. Und auch beim Klimaschutz greifen AktivistInnen auf die Heiligendamm-Erfahrungen zurück, etwa beim Klimacamp in Hamburg. Auch die Teilnehmerkreise überschneiden sich erheblich. Wer politisch aktiv ist, engagiert sich immer häufiger nicht nur zu einem Thema. Entscheidend sei, so berichten viele der Gorlebener Blockierer, dass einem ein Problem persönlich als relevant erscheine - und die Politik offensichtlich nichts dagegen unternimmt. Und Kristallisationspunkte sind wichtig - also Orte oder Ereignisse, an denen der Konflikt sichtbar wird.

Durch diese Multi-Aktivisten werden viele Protestelemente von einer Aktion zur nächsten übertragen. So wurden etwa die Demo-Clowns, die mit absurdem Theater einerseits Regeln übertreten, andererseits aber auch Konflikte entschärfen können, in Deutschland erstmals in Heiligendamm öffentlich wahrgenommen. Seitdem tauchen sie bei Kohle-Protesten ebenso auf wie beim Castor. Auch Kletterer treten mittlerweile nicht mehr nur bei Greenpeace in Erscheinung, sondern ebenso vor dem Atommülllager. Besonders effektiv wird der Widerstand aber, wenn sich nicht nur die verschiedenen Spektren mischen, sondern wie jetzt wieder im Wendland auch die verschiedenen Altersgruppen, die jeweils ihre eigenen Protesterfahrungen einbringen können. In das Mehr-Generationen-Projekt X.

*Malte Kreutzfeldt ist Journalist und Ressorleiter Wirtschaft und Umwelt bei der taz in Berlin.

Geisterbahn Gorleben

Trotz massiver Sicherheitsbedenken will die Bundesregierung die Suche nach einem Atom-Endlager weitertreiben – gegen die Proteste der Bevölkerung.

Von WOLFGANG METZNER

Norbert Röttgen, Ressortchef für Atompolitik unter Angela Merkel, will in Gorleben endlich einen Durchbruch schaffen. Der CDU-Mann, der gerne den freundlichen Umwelt-Softie gibt, will eine Lösung eines Problems erzwingen, das weltweit ungelöst ist: Wohin mit hochaktivem Atommüll, der über Tausende von Jahren strahlt? Was die Atomindustrie längst als ihre „Achillesferse“ fürchtet, will Röttgen so schnell wie möglich aus der Welt haben – Schluss mit dem Moratorium, mit dem unter der rot-grünen Regierung vor zehn Jahren die Erkundung des Salzstockes bei Gorleben unterbrochen wurde, um sicherheitstechnische Grundsatzfragen zu klären. In aller Stille lässt Röttgen Fakten schaffen, damit dort so bald als möglich weitergebohrt werden kann.

Natürlich sei alles noch „ergebnisoffen“, heisst es offiziell im Umweltministerium. Doch wer im „Erkundungsbergwerk“ einfährt, mit Helm und Atemschutz gegen schlechtes Wetter gewappnet, sieht schon an den Dimensionen der Schächte, wohin die Reise geht. 

1,5 Milliarden verbaut niemand, der nicht ein bestimmtes Ziel verfolgt. Wenn man unter Tage aus dem Gitterkorb steigt, wirkt alles grosszügig, aufwendig und clean. Bis auf ein schmutziges Stück Rohr, das aus einer hellen Wand ragt.

„RB 012“ steht neben dem angerosteten Metallstück, das so gar nicht in die saubere Welt hier unten passt. Mehr als 100 Meter wurde an dieser Stelle eine Bohrung ins Gestein getrieben. Heraus sickerten, nach und nach, 165'000 Liter salzige Lauge. „Mit Sicherheit nicht alles, was hier drin ist“, sagt der Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) Florian Emrich neben der inzwischen mit Zement verschlossenen Stelle. Sein Amt rechnet mit „maximal einigen Tausend Kubikmetern“, andere Fachleute bis zu eine Million – auf jeden Fall fatal für ein Endlager, das in Salz gebaut werden soll. 

Theoretisch ist Salz ein ideales Medium, um abgebrannte Kernelemente von der Biosphäre fernzuhalten. Das plastische Gestein fängt an zu fliessen, wenn es durch den in der Tiefe herrschenden Druck und 200 Grad heissen Atommüll aufgeheizt wird. So umschliesst es die Lagerbehälter wie ein Kokon. Mit einer Schwäche: Salz ist so leicht wasserlöslich, dass Fachleute früher immer ein undurchdringliches, schützendes Deckgebirge über einem als Endlager vorgesehenen Salzstock forderten – eine „hydraulische Barriere“, wasserfest wie eine Folie. Leider, so hat sich inzwischen herausgestellt, gibt es die in Gorleben nicht.

Während das Endlagerkonzept früher vorsah, den strahlenden Müll in dickwandigen, liegenden „Pollux“-Behältern in horizontalen „Strecken“ hintereinander zu lagern, will man jetzt senkrecht in die Tiefe. „Bohrlochlagerung“ lautet plötzlich das Zauberwort der Zukunft: In bis zu 300 Meter tiefen Schächten, von der 840-Meter-Sohle aus gebohrt, sollen die Brennstäbe stehend übereinander gestapelt werden – nur verpackt in Kokillen mit einer 45 Millimeter dünnen Wand.

So würde zum zweiten Mal das „Mehrbarrierensystem“ demontiert, das die Experten vor dem Moratorium für unverzichtbar hielten: Nach dem Verzicht auf die „hydraulische Barriere“, das Deckgebirge, würde auch noch eine „technische Barriere“ geopfert. Statt stark abschirmender „Pollux“-Behälter mit 44 Zentimeter dicken Stahlwänden kämen nur bessere Blechkanister zum Einsatz, die schneller korrodieren.

„Die Wut hier ist riesengross“, sagt Asta von Oppen, Lehrerin, 33 Jahre im Widerstand im Wendland. 

„Dieses Problem ist so gross, dass wir es nur legislatur- und parteiübergreifend lösen können“, sagt sie. Sie hat miterlebt, wie die Politik die dünn besiedelte Region im ehemaligen Zonenrandgebiet zum „Atomklo“ der Bundesrepublik auserkor. Wie die Kernindustrie die Gemeinde Gorleben mit Geldern für Schwimmbad und Freizeitvereine köderte, um sie für ihre Pläne zu gewinnen. Wolfram König, Präsident des BfS – ein „Grüner“, der nun den Weisungen des „schwarzen“ Umweltministeriums folgen muss. Manche in seinem Haus fürchten, dass die Politik gerade dabei ist, das Projekt Gorleben ein zweites Mal gegen die Wand zu fahren, indem man die Bevölkerung überrolle.“ (stern Nr. 32/2010)

Genetische Schäden als Folge von Tschernobyl

Von SUSAN BOOS*

Professor Michael Fernex hat Anfang 1998 in „Tschernobyl wütet im Erbgut“ neueste, erschreckende Daten zusammengetragen:

Schon Jahre vor der Reaktorkatastrophe begann man in Weissrussland, die Missbildungen bei Neugeborenen systematisch in einem Register zu erfassen. Vergleicht man heute die Missbildungszahlen mit Daten vor dem Super-GAU, zeigt sich, dass die Missbildungen bei Säuglingen proportional zur Kontamination steigen. In den hoch verseuchten Gebieten ist sie 79 Prozent angestiegen. Diese Missbildungen entstehen im Mutterleib durch die Strahlenbelastung und sind nicht vererbt. Genetische Mutationen brauchen mehrere Generationen, bis sie manifest werden.

Bei Kindern, die 280 Kilometer von Tschernobyl entfernt in kontaminierten Gebieten leben, hat man in einem bestimmten Bereich ihrer Erbsubstanz – den so genannten Minisatelliten – bereits doppelt so viele Mutationen festgestellt, wie bei Kindern aus nicht verseuchten Gebieten. Noch haben diese Mutationen keine erkennbaren Auswirkungen, aber sie werden vererbt. Irgendwann dürften schwere genetische Krankheiten entstehen.

Bei Tieren, die eine kürzere Generationenfolge aufweisen, treten diese mutagenen Schädigungen schon sichtbar auf. In einer Fischzucht 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt entstehen nur noch aus 30 Prozent der befruchteten Karpfen-Eier lebensfähige Larven – der grosse Rest stirbt wegen der zahlreichen genetischen Defekte ab. Die Zucht liegt in mässig verseuchtem Gebiet, das Wasser ist weder mit Schwermetall noch mit Pestiziden verunreinigt. Von den überlebenden Larven weist ein Grossteil die unterschiedlichsten vererbten Missbildungen auf.

Bei Mäusen, die in der Nähe des geborstenen Reaktors leben, haben Wissenschaftler eine so hohe Mutationsrate entdeckt, wie man sie sonst höchstens bei gewissen Viren antrifft.

Der Bestand der Rauchschwalben in der Nähe des Reaktors ist massiv geschrumpft. Die Vögel entwickeln einen Teilalbinismus; aufgrund einer genetischen Anomalie wachsen ihnen auf der Brust, am Kopf oder am Schwanz weisse Federn. Die Halbalbinos sind nicht lange überlebensfähig, es gibt wenig Nachwuchs, die Population stirbt langsam aus. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 226)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Kaiseraugst - gelebte Demokratie

Von HANS SCHNEIDER*

„Während bald zehn Jahren versuchten die Atomkraftwerkgegner der Region Basel die Bevölkerung über die Problematik der Atomkraftwerke aufzuklären. Es war ein unbeschreiblicher Einsatz der anfänglich geringen Zahl von Aktiven notwendig, um der verfänglichen Propagandaflut der finanzstarken Atomkraftwerkpromotoren nicht zu erliegen. Leider hat die Bundesverwaltung bisher die Atomkraftwerke uneingeschränkt befürwortet. Die immer wieder vorgebrachten Forderungen der betroffenen Bevölkerung nach sorgfältiger Abklärung wurden bagatellisiert, oberflächlich beantwortet oder übergangen.

Man ist sich noch zu sehr gewohnt, zuerst einen Beschluss zu fassen, in unserem Falle den Beschluss Atomkraftwerke  zu bauen, und hinterher mit allen Mitteln zu versuchen, diesen Beschluss zur Ausführung zu bringen. Es wird Propaganda gemacht und Abklärungen dienen als Alibi.

In diesem Zusammenhang sind Menschen, die unbequeme Anliegen vorbringen ein Hindernis, das man über- oder umgehen muss. Hier entsteht der Konflikt in der angewandten Demokratie. Die Demokratie erlaubt keine von Interessengruppen vorgeplanten Entscheide, wenn diese die Volksgemeinschaft und ihre Umwelt tangieren. Wenn das Volk die Marschrichtung bestimmen soll, dann muss es objektiv und vollumfänglich informiert werden und nicht einseitiger, von Interessen gefärbter Propaganda ausgesetzt sein.“

*Hans Schneider war Leiter der Verhandlungsdelegation der Atomkraftwerkgegner mit dem Bundesrat im Anschluss an die Geländebesetzung in Kaiseraugst 1975) 

Weiter: Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK)

Kaiseraugst - Strahlende Träume

Die Geschichte des AKW-Projektes Kaiseraugst

Von CHRISTA DETTWILER*

Als die Motor-Columbus die Bevölkerung von Kaiseraugst am 22. März 1966 ins Hotel Löwen lud, um ihre atomaren Pläne fürs Dorf vorzustellen, waren die Leute erfreut. Einzelne kritische Stimmen wurden überhört. Versuche, Widerstand zu mobilisieren, scheiterten. 

Es war ein weiter Weg zum Extrablatt der Basler Zeitung am 2. März 1988, das das „Aus für Kaiseraugst“ verkündete. Der Widerstand formierte sich vorerst in Basel - und zwar wegen der Gefährdung der Gewässer. Der bedenkliche Zustand der Schweizer Flüsse war damals ein grosses Thema. Als ein amtlicher Expertenbericht vor schädlichen Auswirkungen der für das AKW Kaiseraugst geplanten Flusskühlung warnte, geriet die Region in Aufruhr.

Als die Motor-Columbus bei der Aargauer Regierung eine Konzession zur Kühlwasserentnahme aus dem Rhein beantragte, trat im Mai 1970 das „Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst“ NAK (ab 1974 Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke NWA, heute Verein Nie wieder Atomkraftwerke NWA) auf den Plan.

Im März 1971 verbot der Bundesrat die Flusskühlung für noch nicht im Bau befindliche AKW. Für Kaiseraugst hiess das Kühltürme. Das wiederum weckte nun auch Widerstand bei Natur- und Landschaftsschützern. Die „Grenzen des Wachstums“ wurden nun sichtbar, die Euphorie über eine „billige und unerschöpfliche“ Energiequelle wich der Ernüchterung, der Angst und dem Bewusstsein der Hypothek, die die strahlenden Abfälle für künftige Generationen bedeuteten.

Bühne frei für die GAK: Übungen in Gewaltfreiheit

Im Sommer 1973 hatte das Bundesgericht in letzter Instanz sämtliche Beschwerden gegen das AKW Kaiseraugst abgewiesen und entschieden, dass Gemeinden bei der Standortfrage kein  Mitspracherecht haben. Der Bau von Kaiseraugst war auf dem Rechtsweg nicht mehr zu verhindern.

Im November 1973 betritt die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK) die Bühne des Geschehens. Ihre Anliegen: Mehr Basisdemokratie, gewaltfreier Widerstand und eine gerechtere, ökologischere Gesellschaft. Ihr Ziel: Baustop in Kaiseraugst bis in der betroffenen Region ein demokratischer Entscheid vorliegt. Dabei setzten sie auf gewaltfreien Widerstand. 

Grundsatzerklärung GAK

Immer mehr grundsätzliche Entscheide, welche unser Zusammenleben in der Gesellschaft betreffen, werden durch Interessengruppen gefällt, ohne dass die Bevölkerung angehört wird. Dieser Zustand ist unhaltbar. In Sorge um eine derartige Entwicklung, die der echten Demokratie zuwiderläuft, haben sich «Gewaltfreie Organisationen» gebildet. […] Für folgende Ziele setzen wir uns mit aller Kraft ein: 

  • Baustopp des Atomkraftwerkes Kaiseraugst, bis in der Region ein demokratischer Entscheid der betroffenen Bevölkerung vorliegt. 
  • Gesamtenergiekonzeption unter Berücksichtigung der ökologischen Grenzwerte unseres Lebensraumes. 
  • Einschränkung der Energieverschwendung und Entwicklung anderer Energieformen.
  • Alternativen zum exponentiellen Wirtschaftswachstum.

Der Kampf beginnt

1973 Die GAK gewinnt in der Region Basel an Rückhalt. In einer «von-Dorf-zu-Dorf-Kampagne» sammelt sie Aktivisten und macht die Öffentlichkeit durch unkonventionelle Aktionen auf sich aufmerksam. Bereits im Dezember 1973 macht die GAK mit einem „Probe Hock“ auf dem Baugelände in Kaiseraugst von sich reden. Rund 400 Personen aus der Region beteiligen sich an der Aktion, die in der ganzen Schweiz mediale Beachtung findet. 

1974 zahlreiche Aktionen gegen das AKW Kaiseraugst . Mit der Organisation eines Ostermarsches stellte sich die GAK in die Tradition der Anti-Atomwaffen-Bewegung. Mitte Juni gibt’s einen Volksmarsch zum Baugelände von Kaiseraugst. Im Herbst folgen rund 6000 Menschen dem Aufruf der GAK zur ersten Vollversammlung auf dem Baugelände.

In der Stadt Basel stimmt die Bevölkerung sehr deutlich gegen die Beteiligung der Stadt am AKW Gösgen. Die GAK sammelt Unterschriften für eine Petition an die  Parlamente aller Nordwestschweizer Kantone für eine Volksabstimmung über das geplante AKW Kaiseraugst in den betroffenen Bezirken.

Zum ersten Mal wird auch das Instrument der Initiative für die Ziele der AKW-Gegner eingesetzt. 

1975 Ende März wird in Kaiseraugst mit den Aushubarbeiten für das AKW begonnen. Am 1. April 1975 besetzen unter Federführung der GAK rund 500 Personen das Baugelände. Am 6. April folgen 15'000 Menschen dem Aufruf zur Grosskundgebung, mehr als 170 Parteien und Verbände bekunden ihre Solidarität mit den Besetzern. Verlangt werden der sofortige Baustopp für das AKW Kaiseraugst sowie Gespräche mit dem Bundesrat. 

Nicht alle sind begeistert: Man sieht die Rechtsordnung gefährdet, verlangt eine zwangsweise Räumung des Geländes durch interkantonale Polizeieinheiten, ja sogar den Einsatz des Militärs. Behörden und Motor Columbus wollen jedoch eine Konfrontation vermeiden und suchen den Dialog. So wurde die Besetzung am 14. Juni 1975 nach fast zweieinhalb Monaten ohne Gewalteinsatz und freiwillig abgebrochen. Der Bundesrat hatte den AKW-Gegnern Gespräche angeboten und den sofortigen Baustopp versprochen. Dieses Angebot wurde an der Vollversammlung, dem obersten Organ der Besetzer am 7. Juni 1975 angenommen – gegen den Willen der radikalen Linken. 

Die Bauplatzbesetzung in Kaiseraugst im Frühling 1975 war der (erste) Höhepunkt der schweizerischen Anti-AKW-Bewegung. Durch das bemerkenswerte Zusammenspannen unterschiedlichster Kräfte wurde eine erfolgreiche direkte Aktion möglich. 

Die Besetzung hatte verschiedene, teils widersprüchliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Anti-AKW-Bewegung in der Schweiz. Auf der einen Seite wurde die heterogene Bewegung durch die Aktion vorläufig geeint: an der Besetzung beteiligten sich rund 40 Bürgerinitiativen und zahlreiche Gewaltfreie Aktionen, ein für die Schweiz einmaliges Experiment.

Die Wirkungen der Aktion gingen weit über die Grenzen der Region Kaiseraugst hinaus. Sie sensibilisierte die Bevölkerung für die Problematik der Kernenergie, was immer weitere AKW- Gegner mobilisierte. Der Widerstand beschränkte sich nicht länger auf die Region Kaiseraugst, sondern breitete sich in anderen Teilen des Landes aus. Überall in der Schweiz kam es zur Bildung von Unterstützungskomitees für die Besetzer. Zudem wurden in den Standortregionen weiterer geplanter AKWs neue Gewaltfreie Aktionen gegründet. Durch die direkte Aktion in Kaiseraugst wurde aus dem lokalen Widerstand eine nationale Bewegung. 

(Quellen: Patrick Kupper, Umweltbewegung und Anti-AKW-Bewegung in der Schweiz, Renato Steck, David Kiefer, Uni Bern)

*Christa Dettwiler ist freie Journalistin und Buchautorin

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Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK)
Kaiseraugst – gelebte Demokratie

Reaktorunfälle 1952 – 1989 (Auswahl)

Unfälle mit kompletter oder teilweiser Kernschmelze:

  • Fermi-Reaktor Detroit USA 05.10.1966
    Versagen der Natrium-Kühlung, teilweise Kernschmelze.
  • Lucens CH 21.01.1969
    Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • Saint-Laurent I Frankreich, 17.10.1969 Störfall Stufe 4
    Mehrere Brennstäbe schmelzen, 50 kg Uran fliessen in den Reaktorkern 
  • Three Mile Island USA 28.03.1979
    Teilweise Kernschmelze, Austritt von Radioaktivität in die Umgebung, verzögerte Evakuierung von Schwangeren und Kindern
  • Tschernobyl 26.04.1986, Störfall Stufe 7, Super-GAU

Weitere Unfälle 

  • NRX-Reaktor, Chalk River CND 1952
    Erster grösserer Reaktorunfall der Welt. Serie von Fehlleistungen und Missverständnissen führen zum Versagen der Kontrollsysteme, Reaktorkern irreparabel beschädigt,  Austritt von Radioaktivität in die Umgebung.
  • Windscale GB 1957
    Schwelbrand im Graphit, teilweise Zerstörung des Reaktorkerns, massive radioaktive
    Verseuchung der Umgebung. Erhöhte Krebs- und Trisomie-21-Rate .
  • Santa Barbara USA 26.07.1959
    Experimentalreaktor, Panne in der Natriumkühlung, 10 von 43 Brennelementen schmelzen.
  • Idaho Falls USA 03.01.1961
    Militärreaktor, Kontrollstab zu weit herausgezogen, Dampfexplosion, 3 Tote.
  • Shippingport, Pennsylvania USA 1971
    Verseuchung der Umgebung, Angestellte sterben später an Krebs und Leukämie.
  • Northern States Power bei Monticello, Minnesota USA 19.11.1971
    190 m3 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in den Mississippi River und zum Teil in die Wasserversorgung von Saint Paul.
  • Obrigheim BRD 1972
    Bersten eines Niederdruckbehälters wegen unbeabsichtigter Öffnung eines Ventils.
  • Würgassen BRD  12.04.1972
    Ein Druckentlastungsventil kann nicht geschlossen werden, Druckpulse führen zu Leckagen, 1000 m3 radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in die Weser.
  • Browns Ferry, Alabama USA 22.03.1975
    Techniker prüft Luftzug in Kabelschacht mit einer brennenden Kerze. Brand der Leitungsisolation führt zum Ausfall des gesamten Steuerungs- und Sicherungssystems.
  • Brunsbüttel DE 1976
    Riss in einer Frischdampfleitung, hätte zum Abriss der Hauptdampfleitung und damit zum GAU führen können.
  • Greifswald DDR 1976 
    Techniker setzt Kabelnetz in Brand. Notabschaltung funktioniert, aber Notstromversorgung nicht. Die wichtigsten Anzeigegeräte fallen aus, Kernschmelze droht. Zufällig war eine Pumpe wegen Wartungsarbeiten ans Netz des benachbarten Reaktors angeschlossen und funktionierte als einzige.
  • Gundremmingen BRD 13.01.1977
    Zwei Hochspannungsleitungen fallen wegen Kälte aus. Weil an diese Möglichkeit nicht gedacht worden war, interpretiert das Reaktorschutzsystem dies als „Leck in der Frischdampfleitung“ und schaltet den Reaktor ab. Wegen Schwierigkeiten beim Umschalten auf Notstrom wird der Reaktor mit Kühlwasser überspeist. Radioaktives Kühlwasser gelangt ins Reaktorgebäude, Reaktor kann nicht mehr in Betrieb genommen werden.
  • Brunnsbüttel BRD 18.061978
    Bruch einer Rohrleitung. Abschaltautomatik vorschriftswidrig stillgelegt, 145 Tonnen radioaktiver Dampf gelangt in die Umgebung.
  • Belojarsk UdSSR 30.12.1978
    2 Reaktoren, Brand in Maschinenhalle. Nur ein Reaktor wird abgeschaltet, sonst wäre Kühlung wegen grosser Kälte nicht mehr möglich. Zahlreiche Opfer unter den Feuerwehrleuten.
  • Erwin, Tennessee USA 07.08.1979
    Militärreaktor, 1'000 Personen mit Grenzwert überschreitenden Dosen belastet.
  • Tennessee Valley Authority’s Sequoyah-1 Reactor, USA 11.02.1981
    Wegen Missverständnis Ventil geöffnet, 470’000 Liter Wasser, zum Teil aus dem Primärkreislauf, im Containment versprüht, 8 Arbeiter kontaminiert, Totalausfall der Beleuchtung.
  • Ginna, New York State USA 25.01.1982
    Rohrbruch im Dampferzeuger, Radioaktivität gelangt in den Sekundärkreislauf, die Druckentlastungsventile öffnen sich, Freisetzung von Radioaktivität. Wegen Druckverlust Kühlung des Reaktors gefährdet.
  • Kozloduj BG 21.02.1983
    Ventile am Druckhalter stehen offen, der Primärkreislauf verliert Kühlmittel und Druck. Fehlreaktion der Bedienungsmannschaft.
  • Salem-1, USA 22. und 25.02.1983
    Notabschaltmechanismus schlecht gewartet, versagt.
  • Pickering-1 CND 01.08.1983
    Bruch einer Druckleitung, 900 Liter schweres Wasser gelangen in den Ontariosee.
  • Pickering-2 CND 1983
    Bis 1,8 Meter lange Risse in Druckleitungen, Reaktor abgeschaltet.
  • Pickering-2 CND 03.09.1983
    Lecks in Druckleitung, 2'250 Liter schweres Wasser in den Huronensee. Reaktor stillgelegt. 
  • Jaslowske Bohunice CSSR 1984
    Häufung von Pannen: Beschädigte Bolzen, Ausfall der Notstromversorgung, leckendes Ventil im Sekundärkreislauf. Zu früh eingeschaltetes Kontrollsystem fährt den Reaktor von 80% auf 102% Leistung hoch.
  • Bugey FR 14.04.1984
    Ausfall eines Gleichrichters, der einen Teil des Kontrollpanels versorgt. Die Konsole wird automatisch von einer Batterie versorgt. Als die Batterie leer wird und die Spannung nachlässt erfolgt automatisch eine Schnellabschaltung des Reaktors. Wegen der fehlenden Spannung können die Konsole nicht auf Notstromversorgung umgeschaltet und der Notstrom-Dieselgenerator nicht gestartet werden. Obwohl ein anderer Dieselgenerator noch Strom liefert, ist das Reaktorschutzsystem ohne Strom, da dort eine Sicherung durchgebrannt war. Der Reaktorkern wurde nur noch durch thermische Konvektion gekühlt, der Druck des Primärkreises durch Ventile geregelt, die teilweise auch nicht mehr funktionieren. Wäre eines der stromlosen Ventile in offener Stellung verblieben, hätte das ein Leck im Primärkreis bedeutet.
  • Chooz-A FR 1984
    Risse, Reibungsabnützungen und gebrochenen Schweissnähte bei Kontrollstäben.
  • Tarapur IND 1985
    Bruch einer Gummidichtung. Reaktorgebäude mit radioaktivem Wasser überflutet, 100 m3 davon gelangen in die Umgebung.
  • Neckarwestheim BRD 20.01.1985
    Ausfall einer Hauptkühlpumpe wegen Wasser aus einer lecken Sprinkleranlage. Umschalteinrichtung auf zweite Pumpe versagt.
  • Krümmel BRD 25.01.1985*
    Ein Anschlag auf die Stromleitung führt zum Zusammenbruch der Stromversorgung des Reaktors
  • Rheinsberg DDR Februar 1985
    Brennstabexperimente. Über die Messgeräte dringt radioaktives Wasser nach aussen.
  • Grohnde BRD 06.03.1985
    Ein Defekt an einer Notkühlpumpe bleibt längere Zeit unbemerkt, auch die anderen Pumpen sind nicht voll funktionsfähig. Wenn die Hauptspeisepumpe versagt hätte, hätte auch die Notkühlung versagt.
  • Toledo Edison’s Davis-Besse Plant in Oak Harbour USA 09.06.1985
    16 Materialfehler und menschliches Versagen führen zu einem ähnlichen Ablauf wie in Three Mile Island.
  • Fermi Michigan USA 23.07.1985
    Irrtümlich Ventile geöffnet, statt geschlossen. Sechs Tage später fällt ein Notkühlsystem aus.
  • Brunswick North Carolina USA 30.07.1985
    In einem Notkühlsystem bricht ein Brand aus, weil ein falsches Relais eingebaut worden ist.
  • Catawba South Carolina USA 15.08.1985
    Beim unachtsamen Auffüllen eines Primärkreistanks entsteht ein gefährlicher Überdruck. Der Ausfall der Notstromversorgung kurz danach wird für eine Fehlanzeige gehalten.
  • Cooper Nebraska USA 24.08.1985
    Die Verwechslung zweier Drähte führt zu verkehrter Ventilsteuerung. Wird bei Wartungsarbeiten zunächst nicht bemerkt.
  • August Beaver Valley USA 1985
    Zufällig wird entdeckt, dass Notkühlwasserpumpen seit längerem betriebsunfähig waren.
  • Pickering CND 1985
    Notstromversorgung fünf Tage lang in drei Reaktorblöcken defekt.
  • Kerr-McGee Plant Gore Oklahoma USA 04.01.1986
    Uranhexafluoridzylinder platzt wegen unsachgemässer Erhitzung. Ein Toter, hundert Verletzte, kleinere Mengen Radioaktivität in die Umgebung.
  • Tschernobyl UKR 26.04.1986, Störfall Stufe 7
  • Hamm-Uentrop BRD 04.05.1986
    Thorium-Hochtemperaturreaktor. Eine Brennstoffkugel verklemmt sich. Beim Versuch, sie durch Gasdruck zu lockern, wird Radioaktivität frei.
  • Hinkley Pont, Sommerset GB 09.05.1986
    Wegen einer defekten Schraube entweichen grosse Mengen radioaktiver Gase.
  • Cattenom FR 19.08.1986
    Weil ein Steuerventil offen ist, werden wichtige Teile der Anlage überflutet.
  • Ringhals bei Göteborg, Schweden
    Radioaktives Wasser entweicht.
  • Surrey-2 Virginia 09.12.1986
    Eine Rohrleitung von 46 cm Durchmesser explodiert. Rohrwände wegen Korrosion papierdünn. 350° heisser Dampf strömt aus. Sechs Arbeiter werden verbrüht, vier von ihnen tödlich.
  • Stade BRD 18.09.1988
    Ein Ventil schliesst wegen Fehler in der Elektronik eine der vier Hauptdampfleitungen, die anderen Ventile folgen automatisch. Der Versuch, die Schnellabschaltung des Reaktors zu verhindern misslingt und führt zu heftigen Vibrationen in alten Leitungen. Vier Monate vorher wurde der Abriss eines Ventils im nichtnuklearen Speisewassersystem zuerst verheimlicht.
  • Isar-1 in Ohu BRD 24.07.89
    Der schwere Teleskopmast der Brennstab-Wechselbühne löst sich aus der Verankerung, 67 Stahlkugeln von 8 mm Durchmesser fallen in den Reaktor, nicht alle werden gefunden. Könnten die Umhüllung von Brennstäben beschädigen und dadurch verursachen, dass Radioaktivität bis zu den Generatoren vordringt.
  • Vandellos ESP 22.10.1989
    Brand im Turbinenraum. Unzureichende Löschversuche, Kühlsystem hätte ausfallen können. 

Atomunfälle in der Schweiz 1969 - 1989

  • Lucens 21.01.1969
    Kohlendioxidgekühlter, schwerwassermoderierter Versuchsreaktor, Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • 28.06.1971 Mühleberg
    Siedewasserreaktor. Durch eine lose Ölleitung entströmen 2‘000 Liter Öl und entzünden sich. Durch den Brand – Schaden 20 Millionen Franken – werden Gebäude, Kabel und Armaturen beschädigt.
  • 20.08.1974 Beznau-I
    Druckwasserreaktor. Störung in der externen Stromversorgung, eine der beiden Turbinen schaltet ab. Ein Ventil öffnet sich nicht, der Druck im Sekundärkreislauf steigt, ebenso die Temperatur im Primärkreislauf. Zwei Druckentlastungsventile öffnen sich, aber nur eines schliesst sich wieder, nachdem der Druck gesunken ist. Schnellabschaltung des Reaktors, der Wasserverlust geht weiter, bis ein Operateur den Fehler bemerkt und ein Ventil von Hand schliesst. 
  • 02.06.1986 Mühleberg
    Korrosionsschäden an der Umwälzschleife direkt am Reaktordruckgefäss.
  • 16.09.1986
    In einer Harzaufbereitungsanlage leckt ein Filtersystem, radioaktive Isotope (Kobalt-60, Cäsium-134 und 137) entweichen. Der Zwischenfall wird verheimlicht. Aufgedeckt durch private Radioaktivitätsmessungen.
  • 12.07.1989 Beznau-I
    Durch einen Defekt in einem Dampferzeugerrohr dringen täglich 600 Liter radioaktives Kühlwasser in den Sekundärkreislauf und gelangen dadurch in die Dampfturbinen.
  • 19.07.1989 Beznau-I
    Ein Brennelement wird kurz nach der Revision undicht.

Mehr:
Reaktorunfälle

(Quelle: IPPNW/PSR 1989, Ordner „ATOM“)

Super-Gau in der Schweiz

Von SUSAN BOOS* 

Hans-Peter Meier und Rolf Nef haben in ihrer Studie „Grosskatastrophen im Kleinstaat“ analysiert, was mit der Schweiz geschehen würde, wenn in Mühleberg die Schnellabschaltung versagen, der Kern schmelzen und das Containment nicht standhalten würde: Falls es regnet und der Westwind bläst – was häufig vorkommt -, treibt die radioaktive Wolke in niedriger Höhe Richtung Osten, Nordosten. „In 113 Minuten erreicht die radioaktive Wolke Burgdorf, in 286 Minuten Olten, in 493 Minuten Zürich, in 646 Minuten Frauenfeld und in 779 Minuten Güttingen am Bodensee“.

„Die Autoren gehen von der – wohl realistischen – Annahme aus, dass die Bevölkerung ungeschützt ist. Deshalb bekommen die BewohnerInnen der inneren Gefahrenzone A sofort Strahlendosen ab, die den offiziellen Grenzwert überschreiten. Tausende müssten „kurzfristig in nicht verseuchte Gebiete“ ausgesiedelt werden – was sich dann „horizontale Evakuation“ nennt.

Es wird allerdings nicht bei einer einmaligen Evakuationsaktion bleiben. Andere Gebiete – die Autoren nennen sie Zone B und D – sind vielleicht nicht dermassen hoch kontaminiert, dennoch dürfen sich die Leute nicht allzu lange dort aufhalten, da sich die Strahlung im Körper akkumuliert.

Die beiden Autoren schildern im Detail, wie sich die Schweiz in wenigen Monaten vollständig verändern würde:

Innerhalb von sieben Tagen sind Burgdorf, Zollikofen, Münchenbuchsee und Wohlen bei Bern zu räumen, der Kanton Bern wird insgesamt 57 Gemeinden, 33'000 Wohnungen, 31'000 Arbeitsplätze verlieren.

In den darauf folgenden dreiundzwanzig Tagen muss Zone B evakuiert werden: Zum Beispiel Muri, Zofingen, Bremgarten, die Stadt Zürich sowie viele westlich von Zürich liegende Gemeinden. Es gehen eine halbe Million Arbeitsplätze und 315'000 Wohnungen verloren.

„Selbst bei larger Interpretation der geltenden Schutznormen sind damit 30 Tage nach einem Reaktorunfall 900'000 Menschen umzusiedeln – ohne Hoffnung auf baldige Rückkehr und in einer aufs Äusserste gespannten Situation“, schreiben Meier und Nef 1990.

Die Autobahn A1 Bern – Zürich Richtung Osten kann nicht mehr benutzt werden. Zwischen den einzelnen Zonen müssen – wie um Tschernobyl – Kontrollposten eingerichtet werden, wo man alle, die die Zone verlassen, dekontaminieren muss, um zu vermeiden, dass Radionuklide verschleppt werden.

Mittel- und langfristig müssten jedoch noch weitere Gebiete entsiedelt werden, da die darin lebenden Menschen aufs ganze Leben gesehen eine zu hohe Strahlendosis abbekommen würden. Winterthur, Uster, Dietikon, Kloten, Thalwil, Lenzburg, Suhr und Aadorf gäbe es nicht mehr, ebenso wenig St. Gallen, Schaffhausen, Olten, Frauenfeld, Wettingen, Will, Kreuzlingen, Aarau, Herisau, Baden, Arbon, Bülach und Meilen. „Die Kantone Zürich, Thurgau Appenzell-Ausserrhoden, St. Gallen und Aargau verschwinden […] fast vollständig aus der politisch-kulturellen Landschaft der Schweiz“, konstatieren die Autoren. Insgesamt müssten nach ihrer Hochrechnung 2,6 Millionen Menschen ein neues Zuhause finden.

Aber wo? Soll man sie in den nicht kontaminierten Gebieten unterbringen? Meier und Nef spielen zwei Modelle durch. Man könnte die Atomflüchtlinge wie die Asylsuchenden in den intakt gebliebenen Gemeinden verteilen, und zwar im Verhältnis zur bereits ansässigen Bevölkerung. Genf würde prozentual etwa gleich viel wachsen wie die kleine Gemeinde Eptingen, dennoch würde in Genf die Bevölkerung auf einen Schlag von rund 157'000 auf 269'000 anschnellen, Eptingen nur von 499 auf 857. Man könnte sich aber auch an die Siedlungsdichte halten. Dicht besiedelte Gebiete müssten weniger Binnenflüchtlinge aufnehmen als weniger eng bewohnte. Genf würde somit lediglich um einige hundert anwachsen, das 500-Seelen-Dorf Eptingen bekäme rund 1'800 neue EinwohnerInnen.

„Jede Umsiedlung dieser Grössenordnung wäre eine massive Kolonisierung der lateinischen Schweiz durch die katastrophenvertriebenen Deutschschweizer“, stellen die beiden Autoren fest, „die Schweiz wäre schon Monate nach der Katastrophe nicht nur ökologisch und ökonomisch, sondern auch politisch-kulturell kaum mehr wieder zu erkennen; Jahrzehnte später wohl überhaupt nicht mehr“.

Dieses Szenario betrifft die „ungünstigste Wetterlage“. Würde aus Osten eine Bise wehen, wäre vor allem die Westschweiz betroffen. Überhaupt ginge bei schönem Wetter, gekoppelt mit Wind, weniger Strahlung in der Schweiz nieder. Wir hätten Glück und müssten im besten Fall, so errechneten Meier und Nef, nur für 134'000 Menschen eine neue Bleibe finden.

Egal wie günstig die Witterung ist, nach einem Super-Gau muss man sich ans Aufräumen machen. In Tschernobyl benötigte man dazu 600'000** so genannte Liquidatoren, die sich in der Zone darum bemühten, die Katastrophe einzudämmen, damit sich das freigesetzte radioaktive Material nicht ungehindert ausbreiten konnte. Viele dieser 600'000 Mann erhielten Dosen, die weit über den Grenzwerten lagen, die in der Schweiz für solche Aufräumarbeiten erlaubt wären (250 mSv). Nimmt man die Grenzwerte wirklich ernst, müsste man die Strahlung auf noch mehr Leute verteilen. Auf 800'000 oder gar eine Million – womit jeder zweite oder dritte erwerbstätige Mann zu Aufräumarbeiten abkommandiert werden müsste.“ (Aus „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 163)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

**Andere Quellen beziffern die Zahl der Liquidatoren auf 800'000.

Three Mile Island (Harrisburg)

Three Mile Island, eine kleine Insel im Susquehanna River, liegt rund 18 Kilometer von Harrisburg (Pennsylvania, USA) entfernt. Auf der Insel stehen zwei Reaktorblöcke mit einer Leistung von 1'000 Megawatt (Gösgen hat 965 Megawatt); es sind wie in Beznau und Gösgen Druckwasserreaktoren.

Am 28. März 1979 ereignete sich in Block II der erste schwere Kernschmelzunfall in einem kommerziellen AKW:

Es ist vier Uhr morgens. Der Reaktor produziert mit hoher Leistung Energie. Plötzlich steigt im Primärkreislauf eine Pumpe aus. Der Generator stellt ordnungsgemäss ab. Doch die Kernspaltung im Reaktor läuft weiter. Seine Wärme im Primärkreislauf kann er jedoch nicht mehr an den Sekundärkreislauf abgeben. Die Temperatur im Reaktorkern steigt. Ein Ablassventil öffnet sich, um den Druck im Reaktorbehälter abzubauen. Danach schaltet sich der Reaktor selbst ab. Das dauert nur wenige Sekunden.

Die Operateure wissen jedoch eines nicht: Das Ventil sollte sich von selbst wieder schliessen, doch es klemmt und bleibt offen. Der Druck im Reaktor sinkt immer weiter. Zudem arbeitet das Notstromsystem, das Wasser in den Sekundärkreislauf hätte pumpen sollen, nicht. Es steht wegen Wartungsarbeiten ausser Betrieb. Nun passiert ein verrücktes Missgeschick: Eine Warnlampe zeigt zwar an, dass dieses Sicherungssystem ausgefallen ist – doch die Operateure sehen die Lampe nicht, weil ein Zettel sie verdeckt.

Das wäre vielleicht noch glimpflich abgelaufen, wäre nicht noch eine Fehlleistung hinzugekommen: Automatisch schaltet sich ein weiteres Notsystem ein und pumpt Wasser in den Reaktor, der sich immer stärker erhitzt. Dieses Wasser hätte den Reaktor abkühlen können, die Katastrophe wäre ausgeblieben – doch die Operateure reagieren falsch und schalten diese Pumpe ab.

Im Reaktor bildet sich Dampf. Der Kern wird freigelegt, mehr als die Hälfte der Brennstäbe schmilzt. Eine Wolke von radioaktiven Gasen entweicht und verseucht die Umgebung von Three Mile Island. Stunden-, ja tagelang weiss niemand, was wirklich los ist.

(Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989)

Tschernobyl - Die Evakuierung

Zwei Tage nach der Explosion, an einem Sonntagmorgen, wurde endlich die Evakuierung von Pripjat, einer Hochhaussiedlung 2 km vom brennenden Reaktor entfernt, angeordnet.  HARALD SCHUMANN schildert in einem Buch von Klaus Traube („Nach dem Super-GAU“, rororo aktuell 1986, S. 40) die Evakuierung:

1'100 Busse und Lkws sollen es gewesen sein, die aus Kiew und allen näher gelegenen Ortschaften requiriert wurden, grösstenteils gefahren von Freiwilligen. Vor jedes Haus von Pripjat und dreier kleinerer Ortschaften seien sie gefahren, berichteten die Zeitungen. 36 Stunden nach dem ersten Feuerausbruch  habe man in nur zwei Stunden und 40 Minuten rund 25'000 Menschen in einer 20 Kilometer langen Kolonne aus Pripjat Richtung Süden gebracht. Die Gesamtzahl der Evakuierten aus der Zone unmittelbar ums Kraftwerk wurde später mit 49'000 angegeben. Und längst nicht alle gingen freiwillig. Milizeinheiten drangen teilweise mit Gewalt in die Häuser ein, um den Menschen das Ausmass der Gefahr näherzubringen. Schwierigkeiten muss es vor allem mit der Landbevölkerung gegeben haben, die mit der Umsiedlung nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren ganzen ländlichen Besitzstand, das Vieh, die Gärten und ihre Vorratslager aufgeben mussten. Vieh, hiess es später lapidar, sei „liquidiert“ worden.

Waren so die Bewohner im engeren Gefahrenradius vielleicht nur wenige Stunden dem hohen Strahlenpegel ausgesetzt, so beging die Krisenkommission doch einen, vielleicht verhängnisvollen Fehler. Sie unterschätzte die Dauer und damit die Ausstrahlung des Reaktorfeuers. Anders ist nicht zu erklären, dass sie ausgerechnet die Stadt Tschernobyl selbst mit ihren rund 40’000 Einwohnern zunächst von der Evakuierung ausschloss. Zwar war stets von einem Evakuierungsradius von 30 Kilometer die Rede. Tatsächlich war der Kreis aber rund zehn Kilometer kleiner, so dass die Kleinstadt, deren Namen das Kraftwerk trägt, nicht mehr dazugehörte. 

Dort schenkte man den Menschen erst vier Tage später, am Donnerstag „danach“, reinen Wein ein. Und nicht zwei Stunden, sondern mindestens drei Tage dauerte es, sie aus der Gefahrenzone zu bringen, erfuhr die Welt schliesslich in der darauf folgenden Woche, als die ersten westlichen Korrespondenten einen Tag lang Kiew besuchten und dort mit einigen Evakuierten sprechen konnten. Noch während der ersten internationalen Pressekonferenz des sowjetischen Aussenministeriums am Dienstag, dem 6. Mai, hatte man von der zügigen und vollständigen Evakuierung gesprochen. 

Tschernobyl und die Schweiz

Von SUSAN BOOS*

Von Seiten der Behörden und AKW-Betreiber heisst es immer wieder, Tschernobyl sei nicht vergleichbar mit unseren Reaktoren: Unsere seien sicherer, besser gewartet und das Personal perfekt ausgebildet. Das mag einerseits zutreffen, andererseits haben das bislang alle AKW-Betreiber der Welt behauptet. Auch diejenigen von Three Mile Island waren überzeugt, bei ihnen könnte sich nie ein schwerer Unfall ereignen. Sonst hätten sie wohl kaum zugelassen, dass wenige Monate vor dem Unfall der US-Film „The China Syndrom“  auf Three Mile Island fertig gedreht wurde. Der Film schildert, wie in einem AKW der Reaktor durchzuschmelzen droht. Mit „Chinasyndrom“ bezeichnen Insider scherzhaft eine Kernschmelze, bei der sich ein tonnenschwerer Urankern in die Erde Richtung Asien frisst. Im Film gibt es ein Happyend. Er lief in den US-Kinos, als man in der Umgebung von Three Mile Island Schwangere und Kinder evakuierte.

Dass technisch betrachtet ein Unfall wie in Tschernobyl in unseren Reaktoren nicht passieren kann, stimmt insofern, als es sich um einen ganz anderen Reaktortyp handelt. „Tschernobyl“ hatte aber auch Vorteile, die die Schweiz nicht vorweisen kann. Die Anlage steht zum Beispiel in schwach besiedeltem Gebiet. Ein weiterer „Vorteil“ war, dass der Reaktor buchstäblich explodierte, wodurch ein grosser Teil der Spaltprodukte in die Atmosphäre geschleudert und über den ganzen Erdball verteilt wurde. Dies wäre – wie das Öko-Institut Darmstadt errechnete – bei den Schweizer Reaktoren anders: Weil sie eine andere Konstruktion aufweisen, käme es zu „niedrigeren Freisetzungshöhen – bis zu einigen hundert Metern“, die „zu höheren Belastungen in kleinen und mittleren Entfernungen (damit sind Entfernungen bis zu einigen hundert Kilometern gemeint)“ führen. Die Radionuklide gingen also in der Schweiz und dem angrenzenden Ausland nieder. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 162)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik