Sicherheit

1987: Strahlenunfall in Brasilien

Die Ruine des stillgelegten Instituts für Strahlentherapie in der brasilianischen Millionenstadt Goiània war für die zwei Abfallsammler ein verlockendes Ziel. Am 13. September 1987 drangen sie auf das Gelände ein und stahlen Teile eines ausgedienten Strahlentherapie-Gerätes. Die beiden Diebe verkauften das Gerät weiter an einen Altwarenhändler, der das Gerät zerlegte und so fast 100 Gramm hochradioaktives Cäsiumchlorid freisetzte. Fatalerweise leuchtet das im Cäsiumchlorid enthaltene Cäsium-137 ((Link zu Lexikon Cäsium)) in der Dunkelheit schwach blau. Fasziniert von diesem geheimnisvollen Leuchten brachte der Schrotthändler das salzartige Material nach Hause und verteilte es an Familienmitglieder und Bekannte. Immer mehr Leute im Umfeld des Schrotthändlers litten in der Folge unter Hautausschlägen, Übelkeit, Durchfall, Haarausfall und weiteren Symptomen. Die Ärzte brachten die Beschwerden vorerst nicht in Verbindung mit dem leuchtenden Pulver. Erst am 28. September kam der Verdacht auf, dass das blaue Pulver daran schuld sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 90 Prozent der Cäsium-137 über mehrere Wohnquartiere verschleppt worden, ganze Strassenzüge und Plätze waren verseucht.

In den folgenden Tagen wurden 112‘800 Personen auf eine Verstrahlung untersucht, 249 wurden als kontaminiert identifiziert. Vier Personen starben: die Frau des Schrotthändlers, eine Nichte und zwei Gehilfen. Einer der Diebe musste sich den rechten Unterarm amputieren lassen. Rund 500 Menschen litten in irgend einer Form an den Spätfolgen der Verstrahlung. In der Stadt gab es 85 kontaminierte Häuser, 41 davon mussten evakuiert und 7 abgerissen werden. 3‘500 Tonnen radioaktiver Abfall muss nun in 14 Containern für 180 Jahre sicher gelagert werden.

Für die Strahlenschutzexperten von heute liefern die tragischen Ereignisse von Goiània Erkenntnisse darüber, welche Folgen die Explosion einer mit radioaktivem Material „angereicherten“ so genannten „schmutzigen“ Bombe  haben könnte.

(Quelle: NZZ vom 27. Juli 2017)

AKW Fessenheim: Atom-Unfall vertuscht

Nach Recherchen von WDR und «Süddeutscher Zeitung» könnte es 2014 einer der dramatischsten AKW-Unfälle in Westeuropa gewesen sein.

Red. Das AKW Fessenheim befindet sich nur 60 Kilometer nördlich von Basel. Kleinere Pannen sind in diesem alten AKW schon häufiger aufgetreten. Der grösste Fast-Unfall aus dem Jahr 2014 haben die Franzosen und die an Fessenheim mit je 5 Prozent beteiligten Schweizer Energiekonzerne Alpiq, Axpo und BKW bisher verschwiegen. Im Folgenden die neusten Enthüllungen des TV-Senders WDR und der «Süddeutschen Zeitung».

Der Reaktorkern betroffen

Am 9. April 2014 um 17 Uhr gehen gleich mehrere Alarmsignale auf der Leitwarte des Reaktorblocks 1 in Fessenheim ein: Wassereinbruch auf mehreren Ebenen, Defekte an elektrischen Isolierungen, Ausfall eines der beiden Systeme zur Reaktorschnellabschaltung. Der Versuch, den Reaktor ordnungsgemäss herunterzufahren scheitert - die Steuerstäbe lassen sich nicht bewegen.

«Es betrifft hier den Reaktorkern, also die Seele, die Zentrale der Anlage», sagt Manfred Mertins, der seit Jahrzehnten als Sachverständiger für Reaktorsicherheit tätig ist. Er war lange Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit, GRS, die im Auftrag der Bundesregierung die Sicherheit von Atomkraftwerken beurteilt. «Wenn ich hier unterstelle, dass ein System schon ausgefallen war, muss ich sagen: Damit war die Abschaltung nicht mehr in dem vorgesehenen Umfang sichergestellt», so Mertins. «Also insofern ein sehr ernstes Ereignis.»

Temperatur aus dem Ruder gelaufen

Die französische Atomaufsicht schrieb wenige Tage nach dem Unfall an die Leitung des Kraftwerks einen Brief. Der Inhalt ist auch für Mertens erschreckend. «Es gibt eine Information, dass für etwa drei Minuten die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen ist. Das ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass man keine Informationen mehr über die Regelung im Kern hatte.» Die Mannschaft habe in diesem Moment den Reaktor quasi blind gefahren, sagt Mertins.

Eine dramatische Situation, so sah es damals wohl auch der Kraftwerksbetreiber. Eiligst richtete er einen Krisenstab ein. Der entschied sich für eine ungewöhnliche Massnahme: Um den Reaktor herunterzufahren, wird Bor in den Reaktorbehälter gegeben. Man zieht sozusagen die Notbremse, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein in Westeuropa einmaliger Vorgang, sagt Mertins.

«Es hätte kein Wasser eindringen dürfen»

Aber nicht nur die Folgen, auch die Ursachen des Unfalls erschrecken den Experten. Denn offenbar sind die diversen Steuersysteme ausgefallen, weil Wasser durch die Ummantelung von Elektrokabeln in verschiedene Räume und in sicherheitsrelevante Schaltkästen gelangen konnte. «Es hätte kein Wasser eindringen dürfen, insbesondere in die Leittechnikschränke des Reaktorschutzes. Dass ein Strang komplett ausgefallen ist, das geht gar nicht!»

Sowohl die französische Atomaufsichtsbehörde ASN als auch die Betreiberfirma EDF haben seinerzeit die ganze Dramatik der Ereignisse vom 9. April 2014 der Öffentlichkeit vorenthalten. Der Ausfall der Steuerstäbe und die so genannte «Notborierung» wurden nicht einmal der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien mitgeteilt.

«Dieser Schrottreaktor gehört abgeschaltet»

Für die Vorsitzende der Grünen, Simone Peter ist das AKW Fessenheim nicht nur wegen dieses Vorfalls eine tickende Zeitbombe. «Ein Betreiber, der wie ein Hasardeur agiert, eine Aufsicht, die beide Augen zudrückt, und ein AKW, das aus dem letzten Loch pfeift. Das ist nicht hinnehmbar», sagt sie. «Das ist eine akute Gefährdung für die Bevölkerung auch in Deutschland. Dieser Schrottreaktor gehört abgeschaltet.»

Die Grünen-Vorsitzende fordert wegen der Häufung von Zwischenfällen in grenznahen Atomkraftwerken nun eine Neubewertung der Atomkraft in Europa und schlägt einen europäischen Atomgipfel vor.

Präsident François Hollande hatte im Wahlkampf zugesichert, das alte Kernkraftwerk Fessenheim Ende 2016 stillzulegen. Letzte Woche gab er bekannt, das AKW noch bis Ende 2019 laufen zu lassen – aus wirtschaftlichen Gründen.

(Infosperber / 04. M

Forsmark: 30 Minuten bis zum Super-GAU

Von REINHARD WOLLFF*

Am Dienstag vergangener Woche (Juli 2006) ist Europa haarscharf an einem neuen Tschernobyl vorbeigeschlittert: Im Reaktor 1 des schwedischen AKW Forsmark nördlich von Stockholm wäre es fast zu einem Super-GAU gekommen. Zuerst ereignete sich ein Kurzschluss, danach fiel die Stromversorgung aus und verschiedene Sicherheitssysteme funktionierten nicht wie vorgesehen. „Es war reiner Zufall, dass es zu keiner Kernschmelze kam.“ Das sagt ein Mann, der es wissen sollte: Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns – der das AKW Forsmark betreibt – den betreffenden Reaktor bestens kennt. Nach seiner Einschätzung lösten verschiedene Konstruktionsmängel eine Kette von Fehlfunktionen aus, die dazu führten, dass der Reaktor zeitweilig nicht mehr gekühlt wurde. Man hatte noch eine Zeitmarge von einer halben Stunde – dann wäre der Reaktor nicht mehr zu kontrollieren gewesen. In der Folge wäre es eineinhalb Stunden später unaufhaltsam zu einer Kernschmelze gekommen.

Begonnen hatte die Beinahe-Katastrophe am 25. Juli 2006 kurz vor 14 Uhr: Bei Wartungsarbeiten verursachten Mitarbeiter des AKW in einem Stellwerk einen Kurzschluss, der das Atomkraftwerk auf einen Schlag vom übrigen Stromnetz trennte. Automatisch erfolgte daraufhin eine Schnellabschaltung des Reaktors 1. In einer solchen Situation sollten normalerweise vier Notgeneratoren anspringen und den Hilfsbetrieb aufrechterhalten. Vor allem sollten sie die Pumpen, die den Reaktor kühlen, mit Strom versorgen. Tatsächlich pflanzte sich aber der Kurzschluss über die gesamte Versorgungskette zwischen dem äusseren Wechselstrom- und dem inneren Gleichstromsystem fort, sodass sich auch die Hilfsgeneratoren kurzschlossen. Ein Konstruktionsmangel, den man offenbar all die Jahre übersehen hatte. Nur weil zwei der Generatoren nach einiger Zeit trotzdem gestartet werden konnten und einen Teil der Notkühlung übernahmen, gelang es, den Reaktor nach 23 Minuten wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Das Bedienungspersonal musste dabei laut Höglund gegen eine grundsätzliche Sicherheitsvorschrift – die „Halbstundenregel“ – verstossen. Laut dieser Regel soll nach der Schnellabschaltung eines Reaktors dreissig Minuten lang kein menschlicher Eingriff in den computergesteuerten Ablauf erfolgen, um unüberlegte Massnahmen zu vermeiden. Das zusätzliche Problem in Forsmark: Der Stromausfall hatte zu einem Computerblackout geführt, sodass die Bedienungsmannschaft teilweise „blind“ war. Viele Messgeräte funktionierten nicht, die Operateure wussten deshalb nicht, in welchem Zustand sich der Reaktor befand und welche Auswirkungen ihre Eingriffe hatten. Im konkreten Fall war laut Höglunds Einschätzung der Verstoss gegen die Halbstundenregel absolut korrekt und notwendig, um eine Katastrophe zu verhindern. Was aber gleichzeitig beweise, wie wenig perfekt die Sicherheitssysteme westlicher Reaktoren tatsächlich sind: Höchst unzureichend.

Sowohl der AKW-Betreiber wie die staatliche SKI weisen die Einschätzung des Forsmark-Konstrukteurs, der Reaktor habe vor einer Kernschmelze gestanden, als „übertrieben“ zurück. Bei SKI (Statens Kärnkraftinspektion) bezeichnet man die Ereignisse in Forsmark als „ernsten Vorfall“, ordnet ihn aber auf der internationalen siebenstufigen INES-Skala doch nur auf Stufe 2 ein, was einem „Störfall“ entspricht; ein „ernster Störfall“ wäre Stufe 3. Begründung hierfür: Es sei keine Radioaktivität freigesetzt worden. Für Lars-Olov Höglund ist diese Einstufung eine Verharmlosung. „Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl“, betont er: „Es war nur Glück – näher kann man einer Kernschmelze nicht kommen.“ Dass man offiziell den Vorfall bagatellisiert, kann Höglund aber nachvollziehen: „Man will den Weiterbetrieb nicht in Frage stellen. Und natürlich steuert das Geld.“ (Wochenzeitung WOZ vom 03.August.2006)

*Reinhard Wollff ist Journalist in Stockholm

Fukushima – der fünfte Tag

0.06Uhr (MEZ)

Explosion in Reaktor 2

0.47 Uhr

Strahlenbelastung deutlich erhöht, möglicherweise Beschädigung des Reaktormantels.

1.46 Uhr

Japanische Atombehörde will Schäden am Schutzmantel von 

Reaktor 2 nicht bestätigen.

3.10 Uhr

Brand im Reaktor 4. Dort sind verbrauchte Brennelemente gelagert.

3.16 Uhr

Teilevakuierung des Atomkraftwerks Fukushima. 50 von 800 Arbeitern bleiben zurück.

4.28 Uhr

Feuer in Reaktor 4 von US-Soldaten gelöscht.

6.34 Uhr

Flugverbot im Umkreis von 30 Kilometern.

7.08 Uhr

Die Strahlenbelastung 100 km nördlich von Tokio ist zehnmal höher als normal (als „normal“ gelten 0,05 Millisievert pro Stunde)

8.46 Uhr

Panikkäufe in Tokio. In einem Supermarkt sind Radios, Taschenlampen, Kerzen und Schlafsäcke ausverkauft.

8.53 Uhr

Ein Regierungssprecher gibt bekannt, dass auch in den Reaktoren 5 und 6 die Kühlungen nicht mehr einwandfrei funktionieren.

10.11 Uhr

Nordwind transportiert radioaktive Partikel Richtung Tokio.

10.18 Uhr

Kühlung in Reaktor 4 droht auszufallen.

10.40 Uhr

In der Aussenwand von Reaktor 4 klaffen zwei grosse Löcher.

11.20 Uhr

Entwarnung an der Wetterfront: Die Winde tragen die radioaktiv verseuchte Luft Richtung Meer.

11.53 Uhr

Schweres Nachbeben der Stärke 6,3 vor der Ostküste.

12.40 Uhr

Nach Einschätzung der französischen Atomaufsichtsbehörde hat der Unfall in Fukushima die Stufe 6 (von 7) auf der internationalen Störfallskala erreicht.

14.22 Uhr

In den Medien geben Experten Tipps für den Fall einer radioaktiven Verstrahlung.

14.56 Uhr

Nachbeben der Stärke 6,0 im Grossraum Tokio.

15.17 Uhr

Nachbeben der Stärke 6,0 im Grossraum Tokio.

15.48 Uhr

Die Betreibergesellschaft Tepco erwägt, per Helikopter Wasser auf das Lagerbecken abzuwerfen.

20.27 Uhr

Tepco befürchtet Explosionen auch in den letzten beiden unbeschädigten Reaktoren.

(Quelle: Aargauer Zeitung vom 16. März 2011)

Fukushima – Chronologie der ersten Tage

Freitag, 11. März 2011
14:45 Uhr. Ein Erdbeben der Stärke 9 erschüttert die Nordostküste Japans. Der dadurch ausgelöste gewaltige Tsunami fegt über die Küsten des Archipels hinweg. Fünf Stunden später gibt die japanische Regierung bekannt, im Kühlsystem des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi sei ein Problem aufgetreten.

Samstag, 12.März 2011
Techniker des Kraftwerks lassen kontrolliert Dampf ab, um einen zu hohen Druckanstieg im Reaktordruckbehälter zu verhindern. Im Kontrollraum von Reaktorblock 1 liegen die Strahlenwerte tausendfach über der Norm. Heftige Explosion, bei der Gebäudeteile in die Luft fliegen und weisser Rauch aufsteigt. Der obere Teil des Reaktorgebäudes und das Dach stürzen ein. Druckentlastung im Reaktorblock 2, nachdem dort Kühlwasser ausgeflossen ist. Notkühlung mit Meerwasser.

Sonntag, 13. März 2011
Wegen eines Ausfalls des Kühlsystems in Reaktor 3 wird Dampf abgelassen und mit Hilfe der Feuerlöschpumpe mit Borsäure versetztes Meerwasser in den Reaktor eingespeist. Im 1zwölf Kilometer von Fukushima Daiichi entfernten Kernkraftwerk Fukushima Daini werden erhebliche Kühlprobleme gemeldet. Der japanische Premierminister ordnet die Einspeisung von mit Bor versetztem Meerwasser in den Reaktor an.

Montag, 14. März 2011
Eine zweite Explosion, diesmal im Reaktorblock 3 von Fukushima Daiichi, zerstört das Dach des Reaktorgebäudes. Elf Personen werden verletzt. Die Wassereinspeisung muss unterbrochen werden, nachdem eine Pumpe versagt hat. Das Kühlsystem von Reaktor 2 fällt aus.

Dienstag 15. März 2011
Eine Explosion zerstört den Reaktordruckbehälter von Reaktorblock 2. Das Personal wird evakuiert, bis auf fünfzig Arbeiter die für die Reaktorkühlung sorgen und unter gefährlichen Bedingungen die Pumpen aktivieren müssen. Die Explosion hat das Kondensationsbecken des Reaktordruckbehälters von Reaktor 2 beschädigt. Brand im Abklingbecken von Reaktorblock 4. Im selben Reaktorblock kommt es zu einer Explosion, gefolgt von einem Brand. Ausweitung der Sicherheitszone, Evakuierung der Bevölkerung in einem Umkreis von dreissig Kilometern. Stark erhöhte Strahlenwerte an den Reaktorblöcken 3 und 4, die mittlerweile als rote Gefahrenzone gelten.

Mittwoch 16. März 2011
Der Hubschrauber, der Meerwasser über dem Abklingbecken abwerfen soll, kann wegen zu starker Strahlung seine Mission nicht erfüllen. Aus den Kontrollzentralen der Reaktorblöcke 3 und 4 werden die Techniker evakuiert. Die japanische Regierung bestätigt eine Teilbeschädigung des Reaktordruckbehälters, der MOX (Mischung aus Uranoxid und Plutonium) enthält. Ein Armeehubschrauber wirft über Reaktorblock 3 des Kernkraftwerks Wasser ab und über Reaktorblock 4 Borsäure. Beide Aktionen müssen wegen zu hoher Strahlung abgebrochen werden.

Donnerstag 17. März 2011
Soldaten der US-amerikanischen Luftwaffe und japanische Zivilschutzkräfte laden eine von den USA gelieferte Hochdruckpumpe auf einen LKW. Meerwasser wird in die Reaktorblöcke 1, 2, 3 und 4 von Fukushima Daiichi eingespeist. Hundertsiebzig Techniker, Kräfte der so genannten Atom-Feuerwehr, werden nach Fukushima entsandt, um das Kühlsystem instand zu setzen. Aus den Reaktorblöcken 2. 3 und 4 wird Dampf abgelassen. Elf Wasserwerfer besprengen die Reaktoren.

Freitag, 18. März 2011
Eine Woche nach Beginn der Ereignisse ist die Stromversorgung immer noch nicht wiederhergestellt. Die Anzahl der Techniker vor Ort wird auf dreihundert erhöht. Als gemeldet wird, der Störfall habe die Notfallstufe 5 erreicht, entschuldigt sich der AKW-Betreiber bei den Überlebenden aus der Region um das Kraftwerk.

Samstag, 19. März 2011
Eine Meldung kündigt die Wiederherstellung der Stromversorgung für den zweiten Notgenerator von Reaktor 6 an. Zur Kühlung des Abklingbeckens in Reaktor 6 wird die Pumpe des Systems zur Ableitung der Restwärme in Gang gesetzt.

Sonntag, 20. März 2011
Nachdem die Stromversorgung wiederhergestellt ist, werden die mittlerweile unbrauchbaren Reaktorblöcke 5 und 6 abgeschaltet.

Montag, 21. März 2011
Aufgrund von kontrollierter Druckminderung in den Sicherheitsbehältern und wegen mehrerer Lecks entweicht weiterhin Radioaktivität. Über Reaktorblock 3 steigt grauer Rauch auf- Reaktorblock 3 gilt als der gefährlichste, da er grosse Mengen an MOX-Brennelementen enthält. Evakuierung eines Grossteils der AKW-Angestellten. Über Reaktor 2 steigt aus einem Riss im Dach eine weisse Rauchfahne auf.

Dienstag, 22. März 2011
Erneut wird an den Reaktorblöcken 2 und 3 Dampf abgelassen. Ausser Block 5 und 6 ist nach wie vor keiner der Reaktoren an die Stromversorgung angeschlossen. Japans Wirtschafts- und Industrieminister droht damit, die Feuerwehrmänner zu „bestrafen“, die sich weigern, im AKW Fukushima mit seinen stark erhöhten Strahlenwerten Einsatz zu leisten. Temperaturanstieg in der unmittelbaren Umgebung von Reaktor 1.

Mittwoch 23. März 2011
In Reaktor 1 wird über den Wasserversorgungskreislauf Meerwasser eingespeist. Besprengen des Wasserbeckens von Reaktor 4. Zwei erneute heftige Erdbeben der Stärke 5,8 und 6,0 in der Nähe des Kernkraftwerks Fukushima. Die Radioaktivität erreicht einen Wert von 500 Millisievert pro Stunde, was der Strahlendosis entspricht, der die Liquidatoren von Tschernobyl ausgesetzt waren. Die japanischen Behörden geben bekannt, dass Bodenproben vierzig Kilometer nordwestlich des AWs eine stark erhöhte Kontamination mit Cäsium 137 aufweisen. Hundert Meter vor der Küste von Fukushima lassen Wasserproben einen hundertfach über dem japanischen Normwert liegenden Jodgehalt erkennen.

Donnerstag, 24. März 2011
Die japanische Regierung gibt bekannt, dass die Stilllegung von Fukushima mehrere Jahrzehnte dauern wird.

(aus dem Buch „Fukushima mon amour“ von Daniel de Roulet, Verlag Hoffmann und Campe, 2011, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags, www.hoca.de)

Fukushima – noch droht eine weltweite Katastrophe!

Christian Müller / 26. Okt 2013 - Wissenschaftler warnen, aber keiner greift ein: Die Ruine des AKWs Fukushima ist im wörtlichen Sinne eine Atom-Zeitbombe.

In der Nacht von gestern Freitag auf heute Samstag ist Japan erneut von einem Erdbeben überrascht worden, mit dem Epizentrum nicht allzu weit von der Reaktor-Ruine Fukushima entfernt. Seine Stärke betrug 7.1 (bzw. 7.3 gemäss US-Messungen) auf der nach oben offenen Richter-Skala. Das Beben am 11. März 2011, das zu einer Tsunami-Katastrophe und zur fast vollständigen Zerstörung des Atomkraftwerkes von Fukushima geführt hat, hatte die Stärke 9 und war eines der stärksten Erdbeben in jener Region seit Beginn der Messungen überhaupt.

Alles im grünen Bereich also? Mitnichten!

Im Gegenteil sogar: Etliche gravierende Probleme der AKW-Ruine in Fukushima sind noch überhaupt nicht gelöst und können nur knapp unter Kontrolle gehalten werden. Wäre das jetzige Erdbeben auch nur ein wenig stärker ausgefallen, es hätte eine neue Katatstrophe auslösen können mit nicht nur lokalen und regionalen, sondern weltweiten und irreparablen Schäden.

Enorme Gefahr aus den Abklingbecken

In einem Bericht der Offenen Akademie Deutschland werden die drohenden Gefahren – wissenschaftlich präszise – wie folgt aufgezeichnet:
«In den Medien wird nur noch selten von der Atomruine Fukushima berichtet und es wird das Bild vermittelt, das Schlimmste sei überstanden. In Wirklichkeit zeichnet sich eine enorme Gefahr ab, die gar das 85-fache des Ausmaßes der Atomkatastrophe von Tschernobyl annehmen kann. Sie geht von den Abklingbecken aus.

Abklingbecken als Lager für verbrauchte Brennelemente finden sich typisch bei Atomkraftwerken. Angesichts fehlender Endlager werden sie als Zwischenlager für verbrauchte Brennelemente verwendet. Das ist in Deutschland genauso wie in Japan und USA.

Im Gelände des AKW Fukushima lagern mehr als 11.000 verbrauchte Brennelemente. Aufgrund ihrer Wärmeabgabe müssen sie 4 bis 5 Jahre im Abklingbecken gekühlt werden, denn der Nachzerfall der Spaltprodukte setzt Wärme frei. In Fukushima lagern aber bis zu 15 Jahre alte Brennelemente, denn Endlager werden noch nirgends auf der Erde beherrscht. Zusätzlich wurden auch noch neue, zum Einbau vorgesehene Elemente dort gelagert. In den Abklingbecken der havarierten Reaktoren 1 bis 4 befinden sich zur Zeit:

(Gebäude / Verbrauchte Elemente / Neue Elemente)
Block 1 VE: 292 NE: 100
Block 2 VE: 587 NE: 28
Block 3 VE: 514 NE: 52
Block 4 VE: 1331 NE: 204
Sammelabklingbecken: VE: 6375 NE: 0

Allein im Abklingbecken von Reaktor 4 beträgt die Nachzerfallswärme derzeit rund 580 kW. Die Abklingbecken befinden sich in 30 m Höhe in den oberen Etagen (!) der Reaktorgebäude, die durch das Erdbeben vom 11. März 2011, den Tsunami und mehrere Explosionen schwer beschädigt wurden.

Der Zustand ist sehr gefährlich. In Block drei ist der darüber befindliche Kran in das Abklingbecken gestürzt. Die Reaktoren 1 bis 4 sind Ruinen. Die Kühlung wird notdürftig aufrechterhalten. Lagervorrichtungen für Brennelemente befinden sich »in einem Zustand des Verfalls” und liegen in Bereichen, die sie »für kommende seismische Ereignisse verwundbar machen”. Tepco bestätigt Risse, erklärt aber: »Die maximal gemessene Rissbreite betrug 0,3 Millimeter und die festgestellten kleinen Risse sollten keine wesentliche Auswirkung auf die Stabilität des Gebäudes haben.” Meldungen, das Gebäude habe sich durch Unterspülung bereits geneigt, werden von Tepco bestritten.

Am 8.12.2012 fiel die Pumpe des Abklingbeckens in Block 4 aus. Im März 2013 kam es über 2 Tage zum Ausfall des Kühlsystems der Abklingbecken bei Block eins, drei und vier. Am Freitag 5.4.2013 fiel diese Kühlung bei Block drei über drei Stunden aus.

Bei längerem Ausfall der Kühlung und Verdampfen des Kühlwassers werden sich die dort gelagerten Brennelemente übermäßig erhitzen. Bei ca. 800 °C wird die Zirconium-Legierung der Hüllrohre der Brennelemente (Zircaloy) mit Wasserdampf zu Zirconiumoxid und Wasserstoff reagieren und sich in kurzer Zeit ein explosives Knallgasgemisch bilden. Trockene Brennstäbe können in Brand geraten, es wird eine enorme Menge an Radioaktivität freigesetzt. Die in den verbrauchten Brennelementen vorhandenen Spalt- und Brutprodukte werden freigesetzt. Nach Lars-Olov Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Forsmark-Atomkraftwerke des Vattenfall-Konzerns war, kann es sogar zum Einsetzen einer »unkontrollierten Kettenreaktion” kommen.

85mal Tschernobyl!

Robert Alvarez, ehemals politischer Berater des Ressortleiters und Vize-Ressortleiters für nationale Sicherheit und Umwelt beim US-Energieministerium, zeigt die Gefahr auf: Die gesamten im Komplex Fukushima gelagerten Brennelemente «enthalten ungefähr 327 Millionen Curie langlebiger Radioaktivität, davon circa 132 Millionen Curie Cäsium-137, was fast 85 mal der Menge, die Schätzungen zufolge in Tschernobyl frei wurde, entspricht.»Und weiter: «Die höchste Priorität ist die Sicherung des Inhalts von Abklingbecken 4. Dieses wurde strukturell beschädigt und enthält ungefähr die zehnfache Menge des in Tschernobyl freigesetzten Cäsium-137.»

Soweit der wissenschaftliche Zwischenbericht.

Der Bericht enthält aber auch eine Warnung aus japanischer Quelle: «Auch Mitsuhei Murata, ehemaliger japanische Botschafter in der Schweiz, fürchtet dramatische Schäden bei einem weiteren Erdbeben, dem die Ruine nicht standhält. «Botschafter Mitsuhei wies zunächst eindringlich darauf hin, dass durch ein Kollabieren des Reaktorgebäudes 4, in dem sich 1.535 Brennelemente 100 Fuß (30 Meter) über dem Boden befinden, nicht nur die Kontrolle über alle sechs Reaktoren verloren gehen würde, sondern auch das nur 50 m entfernt liegende allgemeine Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente bedroht wäre. Darin befinden sich 6.375 Brennelemente. In beiden Fällen werden die radioaktiven Brennelemente nicht durch ein Containment geschützt, sie liegen äußerst gefährdet unter freiem Himmel. All diese Umstände können mit Sicherheit zu einer globalen Katastrophe führen, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Der Botschafter wies auf die unbeschreibliche Verantwortung Japans in Hinblick auf die ganze Welt hin. Eine solche Katastrophe hätte uns für Jahrhunderte im Griff.»

Japan ist total überfordert

Dass der japanische Energiekonzern Tepco die Gefahren vor und nach dem Beben vollkommen falsch eingeschätzt hat, ist mittlerweile bekannt. Aber auch der Staat Japan, der sich zwischenzeitlich eingeschaltet hat, ist überfordert. Die in Fukushima aufgetretenen Probleme sind weltweit gänzlich neu, niemand hat Erfahrung, wie damit umzugehen ist. Was dringend erforderlich ist, ist eine internationale Task Force aus den besten Wissenschaflern der Welt, unabhängig von deren staatlicher, politischer oder wirtschaftlicher Zugehörigkeit und unabhängig von den Kosten. Denn sollte es tatsächlich zu einem neuen, auch nur wenig stärkeren Erdbeben kommen als das gestrige, ist die Katastrophe eine totale – nicht nur für Japan, nicht nur für Asien, auch für Amerika und Europa. Das gegenwärtige internationale Zuschauen und Abwarten ist deshalb in jeder Hinsicht höchst unverantwortlich!

(Aus der Online-Plattform Infosperber vom 27. Oktober 2013)

Kernschmelzunfälle

Kernschmelzunfälle

 

Kernschmelzunfälle kommen gar nicht so selten vor. Immer wieder kommt es in Wiederaufbereitungsanlagen und Atomkraftwerken zu schweren Störfällen,

auch mit Todesfolgen.

 

Dezember 1952

In einem Reaktor im kanadischen Chalk River bei Ottawa kommt es zu einer schweren Explosion. Der Reaktorkern wird bei einer partiellen Kernschmelze zerstört.

September 1957

In einer Wiederaufbereitungsanlage im russischen Kyschtym explodiert ein Tank mit radioaktiven Abfällen. Dabei werden große Mengen an radioaktiven Substanzen freigesetzt.

Oktober 1957

Im britischen Kernreaktor in Windscale - ab 1983 Sellafield genannt - wird nach einem Brand eine radioaktive Wolke freigesetzt, die sich über Europa verteilt.

1967

Im Forschungsreaktor Diorit schmilzt ein Brennelement. Die Reaktorhalle wird radioaktiv kontaminiert.

Januar 1969

Im Schweizer Versuchsreaktor Lucens kommt es zur partiellen Kernschmelze. Schleusen verhindern, dass Radioaktivät in die Umwelt gelangt.

Juli 1973

Wieder kommt es in der Wiederaufarbeitungsanlage Windscale zu einer schweren Explosion, bei der ein großer Teil der Anlage kontaminiert wird.

Januar 1977

Kurzschlüsse in zwei Hochspannungsleitungen führen im deutschen Atomkraftwerk Gundremmingen in Bayern zu einem Totalschaden. Das Reaktorgebäude ist mit radioaktivem Kühlwasser verseucht.

März 1979

Maschinen- und Bedienungsfehler führen im US-Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg zum Ausfall der Reaktorkühlung, die eine partielle Kernschmelze und die Freisetzung von radioaktiven Gasen zur Folge hat.

April 1986

Kernschmelze im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Der radioaktive Niederschlag geht auch in Deutschland nieder. Das Ausmaß der Folgen ist bis heute unklar. Fachleute geben die Zahl der zu erwartenden Toten mit zwischen 4000 und 100.000 an. 4000 Menschen erkrankten infolge des Unfalls an Schilddrüsenkrebs.

September 1999

In einem Brennelementewerk in der japanischen Stadt Tokaimura setzt nach einer unvorschriftsmäßigen Befüllung eines Vorbereitungstanks eine unkontrollierte Kettenreaktion ein. Starke radioaktive Strahlung tritt aus.

Oktober 2000

Das umstrittene tschechische Atomkraftwerk Temelin geht ans Netz. Bis Anfang August 2006 werden von der Anlage fast 100 Störfälle gemeldet.

Dezember 2001

Eine Wasserstoffexplosion verursacht im Atomkraftwerk Brunsbüttel einen Störfall. Der Reaktor wird erst auf auf Drängen der Kontrollbehörden im Februar 2002 zur Inspektion vom Netz genommen.

Juli 2006

Nach einem Kurzschluss wird im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark einer von drei Reaktoren automatisch von der Stromversorgung getrennt. Der Reaktor wird heruntergefahren.

Juli 2009

Der Reaktor Krümmel in Schleswig Holstein wird nach einem Kurzschluss im Maschinentransformator per Schnellabschaltung vom Netz genommen. Ein baugleicher Transformator war Ende Juni 2007 nach einem Kurzschluss in Brand geraten.

März 2011

Ein schweres Erdbeben und ein anschließender Tsunami erschüttern Japan. Die Naturkatastrophe führt zur Kernschmelze im Atomkraftwerk in Fukushima, dem folgenschwersten Atomunfall seit dem Unglück von Tschernobyl 1986.

 

Quelle: 3sat / 2012

Reaktorunfälle 1952 – 1989 (Auswahl)

Unfälle mit kompletter oder teilweiser Kernschmelze:

  • Fermi-Reaktor Detroit USA 05.10.1966
    Versagen der Natrium-Kühlung, teilweise Kernschmelze.
  • Lucens CH 21.01.1969
    Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • Saint-Laurent I Frankreich, 17.10.1969 Störfall Stufe 4
    Mehrere Brennstäbe schmelzen, 50 kg Uran fliessen in den Reaktorkern 
  • Three Mile Island USA 28.03.1979
    Teilweise Kernschmelze, Austritt von Radioaktivität in die Umgebung, verzögerte Evakuierung von Schwangeren und Kindern
  • Tschernobyl 26.04.1986, Störfall Stufe 7, Super-GAU

Weitere Unfälle 

  • NRX-Reaktor, Chalk River CND 1952
    Erster grösserer Reaktorunfall der Welt. Serie von Fehlleistungen und Missverständnissen führen zum Versagen der Kontrollsysteme, Reaktorkern irreparabel beschädigt,  Austritt von Radioaktivität in die Umgebung.
  • Windscale GB 1957
    Schwelbrand im Graphit, teilweise Zerstörung des Reaktorkerns, massive radioaktive
    Verseuchung der Umgebung. Erhöhte Krebs- und Trisomie-21-Rate .
  • Santa Barbara USA 26.07.1959
    Experimentalreaktor, Panne in der Natriumkühlung, 10 von 43 Brennelementen schmelzen.
  • Idaho Falls USA 03.01.1961
    Militärreaktor, Kontrollstab zu weit herausgezogen, Dampfexplosion, 3 Tote.
  • Shippingport, Pennsylvania USA 1971
    Verseuchung der Umgebung, Angestellte sterben später an Krebs und Leukämie.
  • Northern States Power bei Monticello, Minnesota USA 19.11.1971
    190 m3 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in den Mississippi River und zum Teil in die Wasserversorgung von Saint Paul.
  • Obrigheim BRD 1972
    Bersten eines Niederdruckbehälters wegen unbeabsichtigter Öffnung eines Ventils.
  • Würgassen BRD  12.04.1972
    Ein Druckentlastungsventil kann nicht geschlossen werden, Druckpulse führen zu Leckagen, 1000 m3 radioaktiv verseuchtes Wasser gelangen in die Weser.
  • Browns Ferry, Alabama USA 22.03.1975
    Techniker prüft Luftzug in Kabelschacht mit einer brennenden Kerze. Brand der Leitungsisolation führt zum Ausfall des gesamten Steuerungs- und Sicherungssystems.
  • Brunsbüttel DE 1976
    Riss in einer Frischdampfleitung, hätte zum Abriss der Hauptdampfleitung und damit zum GAU führen können.
  • Greifswald DDR 1976 
    Techniker setzt Kabelnetz in Brand. Notabschaltung funktioniert, aber Notstromversorgung nicht. Die wichtigsten Anzeigegeräte fallen aus, Kernschmelze droht. Zufällig war eine Pumpe wegen Wartungsarbeiten ans Netz des benachbarten Reaktors angeschlossen und funktionierte als einzige.
  • Gundremmingen BRD 13.01.1977
    Zwei Hochspannungsleitungen fallen wegen Kälte aus. Weil an diese Möglichkeit nicht gedacht worden war, interpretiert das Reaktorschutzsystem dies als „Leck in der Frischdampfleitung“ und schaltet den Reaktor ab. Wegen Schwierigkeiten beim Umschalten auf Notstrom wird der Reaktor mit Kühlwasser überspeist. Radioaktives Kühlwasser gelangt ins Reaktorgebäude, Reaktor kann nicht mehr in Betrieb genommen werden.
  • Brunnsbüttel BRD 18.061978
    Bruch einer Rohrleitung. Abschaltautomatik vorschriftswidrig stillgelegt, 145 Tonnen radioaktiver Dampf gelangt in die Umgebung.
  • Belojarsk UdSSR 30.12.1978
    2 Reaktoren, Brand in Maschinenhalle. Nur ein Reaktor wird abgeschaltet, sonst wäre Kühlung wegen grosser Kälte nicht mehr möglich. Zahlreiche Opfer unter den Feuerwehrleuten.
  • Erwin, Tennessee USA 07.08.1979
    Militärreaktor, 1'000 Personen mit Grenzwert überschreitenden Dosen belastet.
  • Tennessee Valley Authority’s Sequoyah-1 Reactor, USA 11.02.1981
    Wegen Missverständnis Ventil geöffnet, 470’000 Liter Wasser, zum Teil aus dem Primärkreislauf, im Containment versprüht, 8 Arbeiter kontaminiert, Totalausfall der Beleuchtung.
  • Ginna, New York State USA 25.01.1982
    Rohrbruch im Dampferzeuger, Radioaktivität gelangt in den Sekundärkreislauf, die Druckentlastungsventile öffnen sich, Freisetzung von Radioaktivität. Wegen Druckverlust Kühlung des Reaktors gefährdet.
  • Kozloduj BG 21.02.1983
    Ventile am Druckhalter stehen offen, der Primärkreislauf verliert Kühlmittel und Druck. Fehlreaktion der Bedienungsmannschaft.
  • Salem-1, USA 22. und 25.02.1983
    Notabschaltmechanismus schlecht gewartet, versagt.
  • Pickering-1 CND 01.08.1983
    Bruch einer Druckleitung, 900 Liter schweres Wasser gelangen in den Ontariosee.
  • Pickering-2 CND 1983
    Bis 1,8 Meter lange Risse in Druckleitungen, Reaktor abgeschaltet.
  • Pickering-2 CND 03.09.1983
    Lecks in Druckleitung, 2'250 Liter schweres Wasser in den Huronensee. Reaktor stillgelegt. 
  • Jaslowske Bohunice CSSR 1984
    Häufung von Pannen: Beschädigte Bolzen, Ausfall der Notstromversorgung, leckendes Ventil im Sekundärkreislauf. Zu früh eingeschaltetes Kontrollsystem fährt den Reaktor von 80% auf 102% Leistung hoch.
  • Bugey FR 14.04.1984
    Ausfall eines Gleichrichters, der einen Teil des Kontrollpanels versorgt. Die Konsole wird automatisch von einer Batterie versorgt. Als die Batterie leer wird und die Spannung nachlässt erfolgt automatisch eine Schnellabschaltung des Reaktors. Wegen der fehlenden Spannung können die Konsole nicht auf Notstromversorgung umgeschaltet und der Notstrom-Dieselgenerator nicht gestartet werden. Obwohl ein anderer Dieselgenerator noch Strom liefert, ist das Reaktorschutzsystem ohne Strom, da dort eine Sicherung durchgebrannt war. Der Reaktorkern wurde nur noch durch thermische Konvektion gekühlt, der Druck des Primärkreises durch Ventile geregelt, die teilweise auch nicht mehr funktionieren. Wäre eines der stromlosen Ventile in offener Stellung verblieben, hätte das ein Leck im Primärkreis bedeutet.
  • Chooz-A FR 1984
    Risse, Reibungsabnützungen und gebrochenen Schweissnähte bei Kontrollstäben.
  • Tarapur IND 1985
    Bruch einer Gummidichtung. Reaktorgebäude mit radioaktivem Wasser überflutet, 100 m3 davon gelangen in die Umgebung.
  • Neckarwestheim BRD 20.01.1985
    Ausfall einer Hauptkühlpumpe wegen Wasser aus einer lecken Sprinkleranlage. Umschalteinrichtung auf zweite Pumpe versagt.
  • Krümmel BRD 25.01.1985*
    Ein Anschlag auf die Stromleitung führt zum Zusammenbruch der Stromversorgung des Reaktors
  • Rheinsberg DDR Februar 1985
    Brennstabexperimente. Über die Messgeräte dringt radioaktives Wasser nach aussen.
  • Grohnde BRD 06.03.1985
    Ein Defekt an einer Notkühlpumpe bleibt längere Zeit unbemerkt, auch die anderen Pumpen sind nicht voll funktionsfähig. Wenn die Hauptspeisepumpe versagt hätte, hätte auch die Notkühlung versagt.
  • Toledo Edison’s Davis-Besse Plant in Oak Harbour USA 09.06.1985
    16 Materialfehler und menschliches Versagen führen zu einem ähnlichen Ablauf wie in Three Mile Island.
  • Fermi Michigan USA 23.07.1985
    Irrtümlich Ventile geöffnet, statt geschlossen. Sechs Tage später fällt ein Notkühlsystem aus.
  • Brunswick North Carolina USA 30.07.1985
    In einem Notkühlsystem bricht ein Brand aus, weil ein falsches Relais eingebaut worden ist.
  • Catawba South Carolina USA 15.08.1985
    Beim unachtsamen Auffüllen eines Primärkreistanks entsteht ein gefährlicher Überdruck. Der Ausfall der Notstromversorgung kurz danach wird für eine Fehlanzeige gehalten.
  • Cooper Nebraska USA 24.08.1985
    Die Verwechslung zweier Drähte führt zu verkehrter Ventilsteuerung. Wird bei Wartungsarbeiten zunächst nicht bemerkt.
  • August Beaver Valley USA 1985
    Zufällig wird entdeckt, dass Notkühlwasserpumpen seit längerem betriebsunfähig waren.
  • Pickering CND 1985
    Notstromversorgung fünf Tage lang in drei Reaktorblöcken defekt.
  • Kerr-McGee Plant Gore Oklahoma USA 04.01.1986
    Uranhexafluoridzylinder platzt wegen unsachgemässer Erhitzung. Ein Toter, hundert Verletzte, kleinere Mengen Radioaktivität in die Umgebung.
  • Tschernobyl UKR 26.04.1986, Störfall Stufe 7
  • Hamm-Uentrop BRD 04.05.1986
    Thorium-Hochtemperaturreaktor. Eine Brennstoffkugel verklemmt sich. Beim Versuch, sie durch Gasdruck zu lockern, wird Radioaktivität frei.
  • Hinkley Pont, Sommerset GB 09.05.1986
    Wegen einer defekten Schraube entweichen grosse Mengen radioaktiver Gase.
  • Cattenom FR 19.08.1986
    Weil ein Steuerventil offen ist, werden wichtige Teile der Anlage überflutet.
  • Ringhals bei Göteborg, Schweden
    Radioaktives Wasser entweicht.
  • Surrey-2 Virginia 09.12.1986
    Eine Rohrleitung von 46 cm Durchmesser explodiert. Rohrwände wegen Korrosion papierdünn. 350° heisser Dampf strömt aus. Sechs Arbeiter werden verbrüht, vier von ihnen tödlich.
  • Stade BRD 18.09.1988
    Ein Ventil schliesst wegen Fehler in der Elektronik eine der vier Hauptdampfleitungen, die anderen Ventile folgen automatisch. Der Versuch, die Schnellabschaltung des Reaktors zu verhindern misslingt und führt zu heftigen Vibrationen in alten Leitungen. Vier Monate vorher wurde der Abriss eines Ventils im nichtnuklearen Speisewassersystem zuerst verheimlicht.
  • Isar-1 in Ohu BRD 24.07.89
    Der schwere Teleskopmast der Brennstab-Wechselbühne löst sich aus der Verankerung, 67 Stahlkugeln von 8 mm Durchmesser fallen in den Reaktor, nicht alle werden gefunden. Könnten die Umhüllung von Brennstäben beschädigen und dadurch verursachen, dass Radioaktivität bis zu den Generatoren vordringt.
  • Vandellos ESP 22.10.1989
    Brand im Turbinenraum. Unzureichende Löschversuche, Kühlsystem hätte ausfallen können. 

Atomunfälle in der Schweiz 1969 - 1989

  • Lucens 21.01.1969
    Kohlendioxidgekühlter, schwerwassermoderierter Versuchsreaktor, Kernschmelze kurz nach Inbetriebnahme
  • 28.06.1971 Mühleberg
    Siedewasserreaktor. Durch eine lose Ölleitung entströmen 2‘000 Liter Öl und entzünden sich. Durch den Brand – Schaden 20 Millionen Franken – werden Gebäude, Kabel und Armaturen beschädigt.
  • 20.08.1974 Beznau-I
    Druckwasserreaktor. Störung in der externen Stromversorgung, eine der beiden Turbinen schaltet ab. Ein Ventil öffnet sich nicht, der Druck im Sekundärkreislauf steigt, ebenso die Temperatur im Primärkreislauf. Zwei Druckentlastungsventile öffnen sich, aber nur eines schliesst sich wieder, nachdem der Druck gesunken ist. Schnellabschaltung des Reaktors, der Wasserverlust geht weiter, bis ein Operateur den Fehler bemerkt und ein Ventil von Hand schliesst. 
  • 02.06.1986 Mühleberg
    Korrosionsschäden an der Umwälzschleife direkt am Reaktordruckgefäss.
  • 16.09.1986
    In einer Harzaufbereitungsanlage leckt ein Filtersystem, radioaktive Isotope (Kobalt-60, Cäsium-134 und 137) entweichen. Der Zwischenfall wird verheimlicht. Aufgedeckt durch private Radioaktivitätsmessungen.
  • 12.07.1989 Beznau-I
    Durch einen Defekt in einem Dampferzeugerrohr dringen täglich 600 Liter radioaktives Kühlwasser in den Sekundärkreislauf und gelangen dadurch in die Dampfturbinen.
  • 19.07.1989 Beznau-I
    Ein Brennelement wird kurz nach der Revision undicht.

Mehr:
Reaktorunfälle

(Quelle: IPPNW/PSR 1989, Ordner „ATOM“)

Super-Gau in der Schweiz

Von SUSAN BOOS* 

Hans-Peter Meier und Rolf Nef haben in ihrer Studie „Grosskatastrophen im Kleinstaat“ analysiert, was mit der Schweiz geschehen würde, wenn in Mühleberg die Schnellabschaltung versagen, der Kern schmelzen und das Containment nicht standhalten würde: Falls es regnet und der Westwind bläst – was häufig vorkommt -, treibt die radioaktive Wolke in niedriger Höhe Richtung Osten, Nordosten. „In 113 Minuten erreicht die radioaktive Wolke Burgdorf, in 286 Minuten Olten, in 493 Minuten Zürich, in 646 Minuten Frauenfeld und in 779 Minuten Güttingen am Bodensee“.

„Die Autoren gehen von der – wohl realistischen – Annahme aus, dass die Bevölkerung ungeschützt ist. Deshalb bekommen die BewohnerInnen der inneren Gefahrenzone A sofort Strahlendosen ab, die den offiziellen Grenzwert überschreiten. Tausende müssten „kurzfristig in nicht verseuchte Gebiete“ ausgesiedelt werden – was sich dann „horizontale Evakuation“ nennt.

Es wird allerdings nicht bei einer einmaligen Evakuationsaktion bleiben. Andere Gebiete – die Autoren nennen sie Zone B und D – sind vielleicht nicht dermassen hoch kontaminiert, dennoch dürfen sich die Leute nicht allzu lange dort aufhalten, da sich die Strahlung im Körper akkumuliert.

Die beiden Autoren schildern im Detail, wie sich die Schweiz in wenigen Monaten vollständig verändern würde:

Innerhalb von sieben Tagen sind Burgdorf, Zollikofen, Münchenbuchsee und Wohlen bei Bern zu räumen, der Kanton Bern wird insgesamt 57 Gemeinden, 33'000 Wohnungen, 31'000 Arbeitsplätze verlieren.

In den darauf folgenden dreiundzwanzig Tagen muss Zone B evakuiert werden: Zum Beispiel Muri, Zofingen, Bremgarten, die Stadt Zürich sowie viele westlich von Zürich liegende Gemeinden. Es gehen eine halbe Million Arbeitsplätze und 315'000 Wohnungen verloren.

„Selbst bei larger Interpretation der geltenden Schutznormen sind damit 30 Tage nach einem Reaktorunfall 900'000 Menschen umzusiedeln – ohne Hoffnung auf baldige Rückkehr und in einer aufs Äusserste gespannten Situation“, schreiben Meier und Nef 1990.

Die Autobahn A1 Bern – Zürich Richtung Osten kann nicht mehr benutzt werden. Zwischen den einzelnen Zonen müssen – wie um Tschernobyl – Kontrollposten eingerichtet werden, wo man alle, die die Zone verlassen, dekontaminieren muss, um zu vermeiden, dass Radionuklide verschleppt werden.

Mittel- und langfristig müssten jedoch noch weitere Gebiete entsiedelt werden, da die darin lebenden Menschen aufs ganze Leben gesehen eine zu hohe Strahlendosis abbekommen würden. Winterthur, Uster, Dietikon, Kloten, Thalwil, Lenzburg, Suhr und Aadorf gäbe es nicht mehr, ebenso wenig St. Gallen, Schaffhausen, Olten, Frauenfeld, Wettingen, Will, Kreuzlingen, Aarau, Herisau, Baden, Arbon, Bülach und Meilen. „Die Kantone Zürich, Thurgau Appenzell-Ausserrhoden, St. Gallen und Aargau verschwinden […] fast vollständig aus der politisch-kulturellen Landschaft der Schweiz“, konstatieren die Autoren. Insgesamt müssten nach ihrer Hochrechnung 2,6 Millionen Menschen ein neues Zuhause finden.

Aber wo? Soll man sie in den nicht kontaminierten Gebieten unterbringen? Meier und Nef spielen zwei Modelle durch. Man könnte die Atomflüchtlinge wie die Asylsuchenden in den intakt gebliebenen Gemeinden verteilen, und zwar im Verhältnis zur bereits ansässigen Bevölkerung. Genf würde prozentual etwa gleich viel wachsen wie die kleine Gemeinde Eptingen, dennoch würde in Genf die Bevölkerung auf einen Schlag von rund 157'000 auf 269'000 anschnellen, Eptingen nur von 499 auf 857. Man könnte sich aber auch an die Siedlungsdichte halten. Dicht besiedelte Gebiete müssten weniger Binnenflüchtlinge aufnehmen als weniger eng bewohnte. Genf würde somit lediglich um einige hundert anwachsen, das 500-Seelen-Dorf Eptingen bekäme rund 1'800 neue EinwohnerInnen.

„Jede Umsiedlung dieser Grössenordnung wäre eine massive Kolonisierung der lateinischen Schweiz durch die katastrophenvertriebenen Deutschschweizer“, stellen die beiden Autoren fest, „die Schweiz wäre schon Monate nach der Katastrophe nicht nur ökologisch und ökonomisch, sondern auch politisch-kulturell kaum mehr wieder zu erkennen; Jahrzehnte später wohl überhaupt nicht mehr“.

Dieses Szenario betrifft die „ungünstigste Wetterlage“. Würde aus Osten eine Bise wehen, wäre vor allem die Westschweiz betroffen. Überhaupt ginge bei schönem Wetter, gekoppelt mit Wind, weniger Strahlung in der Schweiz nieder. Wir hätten Glück und müssten im besten Fall, so errechneten Meier und Nef, nur für 134'000 Menschen eine neue Bleibe finden.

Egal wie günstig die Witterung ist, nach einem Super-Gau muss man sich ans Aufräumen machen. In Tschernobyl benötigte man dazu 600'000** so genannte Liquidatoren, die sich in der Zone darum bemühten, die Katastrophe einzudämmen, damit sich das freigesetzte radioaktive Material nicht ungehindert ausbreiten konnte. Viele dieser 600'000 Mann erhielten Dosen, die weit über den Grenzwerten lagen, die in der Schweiz für solche Aufräumarbeiten erlaubt wären (250 mSv). Nimmt man die Grenzwerte wirklich ernst, müsste man die Strahlung auf noch mehr Leute verteilen. Auf 800'000 oder gar eine Million – womit jeder zweite oder dritte erwerbstätige Mann zu Aufräumarbeiten abkommandiert werden müsste.“ (Aus „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 163)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

**Andere Quellen beziffern die Zahl der Liquidatoren auf 800'000.

Three Mile Island (Harrisburg)

Three Mile Island, eine kleine Insel im Susquehanna River, liegt rund 18 Kilometer von Harrisburg (Pennsylvania, USA) entfernt. Auf der Insel stehen zwei Reaktorblöcke mit einer Leistung von 1'000 Megawatt (Gösgen hat 965 Megawatt); es sind wie in Beznau und Gösgen Druckwasserreaktoren.

Am 28. März 1979 ereignete sich in Block II der erste schwere Kernschmelzunfall in einem kommerziellen AKW:

Es ist vier Uhr morgens. Der Reaktor produziert mit hoher Leistung Energie. Plötzlich steigt im Primärkreislauf eine Pumpe aus. Der Generator stellt ordnungsgemäss ab. Doch die Kernspaltung im Reaktor läuft weiter. Seine Wärme im Primärkreislauf kann er jedoch nicht mehr an den Sekundärkreislauf abgeben. Die Temperatur im Reaktorkern steigt. Ein Ablassventil öffnet sich, um den Druck im Reaktorbehälter abzubauen. Danach schaltet sich der Reaktor selbst ab. Das dauert nur wenige Sekunden.

Die Operateure wissen jedoch eines nicht: Das Ventil sollte sich von selbst wieder schliessen, doch es klemmt und bleibt offen. Der Druck im Reaktor sinkt immer weiter. Zudem arbeitet das Notstromsystem, das Wasser in den Sekundärkreislauf hätte pumpen sollen, nicht. Es steht wegen Wartungsarbeiten ausser Betrieb. Nun passiert ein verrücktes Missgeschick: Eine Warnlampe zeigt zwar an, dass dieses Sicherungssystem ausgefallen ist – doch die Operateure sehen die Lampe nicht, weil ein Zettel sie verdeckt.

Das wäre vielleicht noch glimpflich abgelaufen, wäre nicht noch eine Fehlleistung hinzugekommen: Automatisch schaltet sich ein weiteres Notsystem ein und pumpt Wasser in den Reaktor, der sich immer stärker erhitzt. Dieses Wasser hätte den Reaktor abkühlen können, die Katastrophe wäre ausgeblieben – doch die Operateure reagieren falsch und schalten diese Pumpe ab.

Im Reaktor bildet sich Dampf. Der Kern wird freigelegt, mehr als die Hälfte der Brennstäbe schmilzt. Eine Wolke von radioaktiven Gasen entweicht und verseucht die Umgebung von Three Mile Island. Stunden-, ja tagelang weiss niemand, was wirklich los ist.

(Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989)

Tschernobyl und die Schweiz

Von SUSAN BOOS*

Von Seiten der Behörden und AKW-Betreiber heisst es immer wieder, Tschernobyl sei nicht vergleichbar mit unseren Reaktoren: Unsere seien sicherer, besser gewartet und das Personal perfekt ausgebildet. Das mag einerseits zutreffen, andererseits haben das bislang alle AKW-Betreiber der Welt behauptet. Auch diejenigen von Three Mile Island waren überzeugt, bei ihnen könnte sich nie ein schwerer Unfall ereignen. Sonst hätten sie wohl kaum zugelassen, dass wenige Monate vor dem Unfall der US-Film „The China Syndrom“  auf Three Mile Island fertig gedreht wurde. Der Film schildert, wie in einem AKW der Reaktor durchzuschmelzen droht. Mit „Chinasyndrom“ bezeichnen Insider scherzhaft eine Kernschmelze, bei der sich ein tonnenschwerer Urankern in die Erde Richtung Asien frisst. Im Film gibt es ein Happyend. Er lief in den US-Kinos, als man in der Umgebung von Three Mile Island Schwangere und Kinder evakuierte.

Dass technisch betrachtet ein Unfall wie in Tschernobyl in unseren Reaktoren nicht passieren kann, stimmt insofern, als es sich um einen ganz anderen Reaktortyp handelt. „Tschernobyl“ hatte aber auch Vorteile, die die Schweiz nicht vorweisen kann. Die Anlage steht zum Beispiel in schwach besiedeltem Gebiet. Ein weiterer „Vorteil“ war, dass der Reaktor buchstäblich explodierte, wodurch ein grosser Teil der Spaltprodukte in die Atmosphäre geschleudert und über den ganzen Erdball verteilt wurde. Dies wäre – wie das Öko-Institut Darmstadt errechnete – bei den Schweizer Reaktoren anders: Weil sie eine andere Konstruktion aufweisen, käme es zu „niedrigeren Freisetzungshöhen – bis zu einigen hundert Metern“, die „zu höheren Belastungen in kleinen und mittleren Entfernungen (damit sind Entfernungen bis zu einigen hundert Kilometern gemeint)“ führen. Die Radionuklide gingen also in der Schweiz und dem angrenzenden Ausland nieder. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 162)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Tschernobyl - Die Evakuierung

Zwei Tage nach der Explosion, an einem Sonntagmorgen, wurde endlich die Evakuierung von Pripjat, einer Hochhaussiedlung 2 km vom brennenden Reaktor entfernt, angeordnet.  HARALD SCHUMANN schildert in einem Buch von Klaus Traube („Nach dem Super-GAU“, rororo aktuell 1986, S. 40) die Evakuierung:

1'100 Busse und Lkws sollen es gewesen sein, die aus Kiew und allen näher gelegenen Ortschaften requiriert wurden, grösstenteils gefahren von Freiwilligen. Vor jedes Haus von Pripjat und dreier kleinerer Ortschaften seien sie gefahren, berichteten die Zeitungen. 36 Stunden nach dem ersten Feuerausbruch  habe man in nur zwei Stunden und 40 Minuten rund 25'000 Menschen in einer 20 Kilometer langen Kolonne aus Pripjat Richtung Süden gebracht. Die Gesamtzahl der Evakuierten aus der Zone unmittelbar ums Kraftwerk wurde später mit 49'000 angegeben. Und längst nicht alle gingen freiwillig. Milizeinheiten drangen teilweise mit Gewalt in die Häuser ein, um den Menschen das Ausmass der Gefahr näherzubringen. Schwierigkeiten muss es vor allem mit der Landbevölkerung gegeben haben, die mit der Umsiedlung nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren ganzen ländlichen Besitzstand, das Vieh, die Gärten und ihre Vorratslager aufgeben mussten. Vieh, hiess es später lapidar, sei „liquidiert“ worden.

Waren so die Bewohner im engeren Gefahrenradius vielleicht nur wenige Stunden dem hohen Strahlenpegel ausgesetzt, so beging die Krisenkommission doch einen, vielleicht verhängnisvollen Fehler. Sie unterschätzte die Dauer und damit die Ausstrahlung des Reaktorfeuers. Anders ist nicht zu erklären, dass sie ausgerechnet die Stadt Tschernobyl selbst mit ihren rund 40’000 Einwohnern zunächst von der Evakuierung ausschloss. Zwar war stets von einem Evakuierungsradius von 30 Kilometer die Rede. Tatsächlich war der Kreis aber rund zehn Kilometer kleiner, so dass die Kleinstadt, deren Namen das Kraftwerk trägt, nicht mehr dazugehörte. 

Dort schenkte man den Menschen erst vier Tage später, am Donnerstag „danach“, reinen Wein ein. Und nicht zwei Stunden, sondern mindestens drei Tage dauerte es, sie aus der Gefahrenzone zu bringen, erfuhr die Welt schliesslich in der darauf folgenden Woche, als die ersten westlichen Korrespondenten einen Tag lang Kiew besuchten und dort mit einigen Evakuierten sprechen konnten. Noch während der ersten internationalen Pressekonferenz des sowjetischen Aussenministeriums am Dienstag, dem 6. Mai, hatte man von der zügigen und vollständigen Evakuierung gesprochen. 

Tschernobyl - Die Schutzhülle


Neuer Deckel für das AKW Tschernobyl im Bau © William Daniels New York Times

Riesenhülle über radioaktives Tschernobyl-Wrack

Urs P. Gasche / 29. Apr 2014 - Der bisherige Beton reicht nicht, um die Umwelt vor dem 1986 explodierten AKW zu schützen. Die neue Hülle soll 2017 drüber kommen.

Neben dem finanziellen Schuldenberg hat die Ukraine auch noch die Folgen der AKW-Katastrophe von 1986 zu bewältigen. Eine neue, zum Teil von der «Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung» EBRD finanzierte Riesenhülle soll das kaputte AKW während der nächsten 100 bis 300 Jahre sicher machen, erklärte Vince Novak, zuständig für nukleare Sicherheit bei der EBRD in der New York Times.

Dieser Deckel ist so gross, dass man damit die Freiheitsstatue in New York zudecken könnte. Sie wird unmittelbar neben dem Reaktor-Wrack gebaut und soll in drei Jahren über das AKW geschoben werden.

Die Kosten der 32'000-Tonnen-Hülle sind auf 1,5 Milliarden Dollar veranschlagt und werden zum grössten Teil von den USA und dreissig andern Ländern bezahlt.

Erst wenn diese Hülle steht, wird es möglich sein, die stark verseuchten Reste des AKW abzubauen und «sicher» zu lagern, bis die Radioaktivität nach ein paar hundert Jahren abgeklungen ist.

Quelle: INFOsperber 30. April 2014

Tschernobyl ist nicht vorbei, es fängt erst an

Urs Fitze. Infosperber / 25. Apr 2016 - 30 Jahre nach Tschernobyl scheint das Leben in den verstrahlten Gebieten weitgehend normalisiert. Doch die Abgründe sind nah.

Iwan Janutschkin hält ein rohrähnliches Gebilde an den Rücken eines Fleischrindes der französischen Edelrasse Limousin. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Radiologie in Gomel setzt sich in Pose und vergisst dabei ganz, dass er das Messgerät ganz falsch angesetzt hat. «Viel zu hoch!»: Sein Chef Alexander Zarenok nimmt ihm das Ding aus der Hand und drückt es dem Tier mit einiger Kraft an der dicksten Stelle in den Bauch. «Wir haben dieses Messgerät, das SRP 86-01, selber entwickelt. Damit können wir sehr zuverlässig messen, wie viele radioaktiven Zerfälle im Fleisch auftreten». 35 Becquerel pro Kilogramm zeigt das Display. «Damit liegen wir weit unter dem Grenzwert von 500. Das Fleisch kann bedenkenlos gegessen werden.»

Ludmilla Kmyr ist zufrieden. Die Betriebsleiterin des «Komplexes für Viehzucht» in Dubowyi Log trägt einen grauen Arbeitsmantel, auf dem Kopf eine übergrosse Lenin-Mütze. Viel ist nicht mehr übrig geblieben von der einstigen Kolchosen-Herrlichkeit. Die 100köpfige Rinderherde, um die sich Kmyr und ein Mitarbeiter kümmern, passt problemlos in die langgestreckte Hallen, in der sich beidseits des Mittelgangs die Tiere wie in einem Gehege frei bewegen können. Darum herum ist nichts mehr, wie es einmal war. 1000 Menschen lebten vor der Katastrophe von Tschernobyl in Duboyi Log im Bezirk Ben Dobrus, eine halbe Autostunde von der Gebietshauptstadt Gomel entfernt. Heute sind es noch fünfzig. Eigentlich dürften sie gar nicht hin.

Das 100fache der natürlichen Strahlung

Dubowyi Log liegt inmitten in einer «primären Umsiedlungszone», in der laut weissrussischem Gesetz die Menschen nicht mehr dauerhaft leben dürfen. Die Umsiedlung wird vom Staat organisiert und finanziert. Die Belastung liege hier, vor allem in den Wäldern, teils um das bis zu 100fache über der natürlichen Hintergrundstrahlung, sagt Alexander Zarenok, auf einigen Feldern liege sie noch unter dem Wert von 40 Curie pro Quadratkilometer, ab dem eine landwirtschaftliche Nutzung verboten ist. Wer in das Sperrgebiet fahren will, muss einen Kontrollposten passieren, auch die Mitarbeiter des Strahleninstitutes müssen den Kofferraum öffnen.

Direktor Alexander Sajzew hatte den Besuch organisiert, sein Telefonanruf ist der Türöffner ins Sperrgebiet. Die Teerstrasse führt durch einen von Birken und Waldkiefern gesäumten, lichten Wald, ab und zu erinnern Warntafeln an die radioaktive Gefahr und das totale Verbot, zu jagen, zu sammeln oder auch das Holz zu schlagen. Ganze Lastwagenladungen mit Holz seien ins nahe Russland abtransportiert worden, heisst es. Der Kontrollposten soll beitragen, den gefährlichen Waldfrevel zu unterbinden. Ob dies auch für die hier und im Umland ansässige Bevölkerung gilt – niemand will es wissen.

Die Strasse zweigt nach links ab, der Wald öffnet sich und rückt nach und nach zum Horizont, den natürlichen Rahmen für weite Felder und Wiesen bildend. Die ersten zerfallenen Häuser von Dubowyi Log, riesige Lagerhäuser mit eingestürzten Dächern, leere Hallen, die einst Ställe waren: Alles scheint dem Zerfall preisgegeben. Wie viele Tiere mögen einst in dieser riesigen, mehrere hundert Meter weiten Koppel am Rand der Kolchose geweidet haben? Jetzt verlieren sich eine Handvoll Rinder in einer riesigen Koppel und strecken ihre Hälse durch den Zaun, um etwas ausgestreutes Kraftfutter zu ergattern.

Abstimmung mit den Füssen nach der Katastrophe

Einen Steinwurf davon entfernt, in der wieder hergerichteten Halle, findet sich der Rest der Herde, neben den Masttieren auch Mutterkühe mit ihren Kälbern. Sie sollen den zurückgekehrten Menschen ein Auskommen ermöglichen, sagt Zaborek. Er ist als Laborchef zuständig für eine umweltfreundliche Tierproduktion auf kontaminierten Flächen im Gebiet Gomel. Kontaminiert sind eigentlich alle Flächen, doch die weissrussischen Gesetze lassen einen Toleranzrahmen zu. Ab 40 Curie pro Quadratkilometer, das entspricht etwa dem Fünfzigfachen der natürlichen Hintergrundstrahlung, ist laut Gesetz eigentlich Schluss. «Doch was sollen wir machen. Die Leute hier gehen nicht mehr weg, und bevor sie gezwungen sind, ihre Produkte illegal zu verkaufen, suchen wir gemeinsam mit ihnen nach einem Weg», übt sich Zaborek in Pragmatismus.

Was bringt Menschen dazu, in diesem radioaktiven Katastrophengebiet den Neuanfang zu wagen? Ludmilla Kmyr schüttelt nur den Kopf. «Was bleibt uns denn anderes übrig?» In den Jahren nach der Katastrophe war es zu einer Abstimmung mit den Füssen gekommen. Wer die Mittel und Möglichkeiten hatte, ging weg, aus den Evakuationsgebieten wurden die Menschen umgesiedelt.

Doch nicht alle fanden ein neues Glück, viele kehrten zurück, manche liessen sich auch von Warntafeln und Verboten in den Sperrzonen nicht abhalten. Das Risiko, das sie dabei für ihre eigene Gesundheit eingehen, ist beträchtlich. Strahlenbelastungen, wie sie in den Sperrgebieten gemessen werden, lassen deutlich höhere Krebsraten und eine ganze Reihe von chronischen Krankheiten erwarten. Doch das nehmen die Rückkehrer in Kauf. Die Wissenschaftler des Forschungsinstituts für Radiologie sagen, sie hätten inzwischen Mittel und Wege gefunden, um selbst in diesen stark belasteten Gebieten die Rindermast zu ermöglichen. «Es gibt einige Flächen, auf denen geweidet werden darf, und wenn die Tiere in den letzten Wochen vor der Schlachtung in den Ställen bleiben und nicht kontaminiertes Futter fressen, lässt sich die Belastung weiter reduzieren», erklärt Alexander Zarenok.

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Das grosse aktuelle Fotobuch dazu:

«Tschernobyl» von Alexander Hofmann, Stämpfli-Verlag, 2016, 40 CHF bei Ex Libris.

Wahrscheinlichkeit und Realität von Nuklearkatastrophen

Ende 2015 standen weltweit 437 Kernreaktoren mit 372,6 Gigawatt (elektrisch) am Netz, 143 waren ausser Betrieb. Seit Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Reaktors 1954 summierte sich die Gesamtbetriebsdauer auf 15‘200 Reaktorjahre. Ursprünglich ging man bei der Risikoabschätzung von einer Havarie mit Austritt erheblicher Mengen an Radioaktivität von einem Fall auf 20‘000 Betriebsjahre aus.  Ein schwerer Störfall mit Schäden in Milliardenhöhe sogar nur einmal in einer Million Reaktorjahre. In der Realität kam es aber innert 60 Jahren bei gegen 15‘000 Gesamtbetriebsjahren auf drei  schwere Fälle (Three Mile Island 1979 / Tschernobyl 1986 / Fukushima 2011).

Die Liste der Ursachen für die verheerenden Auswirkungen ist lang:

-        Fehler des Bedienungspersonals

-        Einsatz von ungeschultem Personal

-        Zufälliges Zusammentreffen mehrerer Probleme

-        Fehlendes Material (Messgeräte, Schutzanüge)

-        Fehlende Notfallpläne

-        Keine Zentrale für die Einsatzleitung

-        Benutzung von ungeeignetem Material zur Bekämpfung der Radioaktivität

-        Falscher Einsatz der Löschflugzeugen

-        Falsche Projektierung beim Bau

-        Fehler in der Computersoftware

-        Fehlende Nachrüstungsbereitschaft der Betreiber

-        Zu späte Evakuierung von Personal und Bevölkerung

Folgen diese Versäumnisse sind:

-        Unnötig hoher Ausstoss von Radioaktivität in die Umgebung

-        Grosse Mengen an radioaktiven Abfällen beim Aufräumen

-        Unnötig hohe Zahl verstrahlter Personen

-        Keine Angaben über die wirklich erhaltenen Strahlendosen bei betroffenen Personen

-        Keine verlässlichen Angaben über die Zahl der Opfer

-        Langfristig umgesiedelte Personen

-        Langfristig unbewohnbare Gebiete

Quelle: Greencross Schweiz Nachrichten, Mai 2016. Der grösste Teil der Angaben stammen aus einem Referat von Prof. Dr. Vladimir M. Kusnetsow an der ETH Zürich im Januar 2016. Kusnetsow arbeitete als Nuklearingenieur im AKW Tschernobyl, anschliessend als Chef bei einer Reaktorsicherheitsbehörde. Als er 1991/92 den Betrieb von zehn Nuklearanlagen verbot, wurde er seines Amtes enthoben. Ganzer Vortrag (englisch) https://www.youtube.com/watch?v=YWNzjZaKYn8